Gedenkrede von Peter Gstettner Graz

Am 1. November 2017 hielt Peter Gstettner die Gedenkrede beim internationalen Mahnmal am Zentralfriedhof in Graz.

Sehr geehrte Festgäste, sehr geehrte Damen und Herrn, liebe Freundinnen und Freunde,  Mitkämpferinnen und Mitkämpfer für eine würdige und nachhaltige Erinnerung an die NS-Opfer!

Zunächst möchte ich mich sehr herzlich bei den Verbänden der politisch Verfolgten, dem KZ Verband, dem Bund Sozialistischer Freiheitskämpfer und der ÖVP Kameradschaft für die Einladung bedanken, dass ich hier bei diesem Mahnmal sprechen darf. Ich weiß die Tradition, die Sie hochhalten, indem Sie hier beim Internationalen Opferdenkmal jedes Jahr am 1. November eine Gedenkveranstaltung abhalten, sehr zu schätzen, denn das NS-Opfer-Gedenken ist keine Selbstverständlichkeit. Die Stimmen sind immer noch zu hören: Damit müsse doch irgendwann einmal Schluss sein, mit diesem „einseitigen Gedenken“. - Zumindest in Kärnten, wo ich seit 25 Jahren versuche, beim ehemaligen Mauthausen-Außenlager am Loiblpass ein Bewusstsein für ein würdiges Opfergedenken zu schaffen, sind vermehrt Stimmen zu hören, dass ja alle Toten des Zweiten Weltkrieges „Opfer“ gewesen wären; niemand dürfe vergessen und niemand von dem ehrenden Gedenken ausgeschlossen werden, denn, so wird gesagt, im Tode seien alle gleich: die auf den Schlachtfeldern gefallenen Soldaten ebenso wie die von den Nazis zu Tode gebrachten Menschen, die in Konzentrationslagern, Gestapogefängnissen, Euthanasieanstalten, Kriegsgefangenenlagern oder bei den Bahntransporten  und Todesmärschen ermordetet wurden. Das Gedenken soll alle betreffen, unabhängig von den Todesumständen!  

Dieses „gemeinsame Gedenken“ lässt sich als Geste der christlicher Versöhnung gut verkaufen und gleichzeitig als Aufforderung verstehen, die Beschäftigung mit der NS-Vergangenheit nicht länger „einseitig“ zu betreiben und nicht nur ausschließlich auf die zu richten, die vom Nazi-Faschismus verfolgt, beraubt und ermordet wurden. Das „gemeinsame Gedenken“ tritt also gerne mit dem Appell auf, wir mögen doch „die Opfer von der anderen Seite“ nicht länger von unserem Gedenken „ausgrenzen“. Der Vorwurf der politisch begründeten „Ausgrenzung“, ist ja heutzutage überall dort zu hören, wo bereits an neuen rechts-konservativen Koalitionen geschmiedet wird.

In unserem Fall läuft dies auf einen Friedens- und Schulterschluss von wesentlichen Teilen der ehemaligen Tätergesellschaft mit den Nachkommen der Opfer hinaus. Mit dem Anspruch, auf diese Weise die gemeinsame Zukunft besser gestalten zu können, wird die Vergangenheit mit der Gegenwart so verschmolzen, dass die „Unschuldsvermutung“ nachträglich über alles gestülpt wird, was Historiker bisher als belastendes Material über die NS-Zeit ans Tageslicht gefördert haben. Genau dadurch werden aber die Verdrängungsstrategie der Nachkriegsgesellschaft in die heutige Zeit verlängert und die monströsen NS-Verbrechen abermals ihrer Thematisierung entzogen.

Das „gemeinsame Gedenken“ ist in Wahrheit dazu angetan, die Unterscheidbarkeit von NS-Gegnern und NS-Befürworten, die grundlegende Differenz von ermordeten Widerständlern und ihren Exekutoren aufzuheben, zu nivellieren oder zumindest zu relativieren. Die inzwischen bekannt gewordenen NS-Verbrechen werden durch das Verwischen von Opfer- und Täterrollen zu „normalen Kriegshandlungen“ herabgestuft, die Taten der Mörder zu Handlungen von einzelnen politisch verführten „schwarzen Schafen“ in der Herde von gutwilligen Handlangern und angeblich ahnungslosen Mitläufern.

Die Nachkriegsgesellschaft glaubt, sich auf diese Weise einen besonderen moralischen  Vorteil schaffen zu können: Man braucht die Fakten der verbrecherischen Vergangenheit nicht mehr explizit zu leugnen, es genügt, wenn man bei der Deutung des Geschehens die „Gnade der späten Geburt“ und die Absicht der „Versöhnung“ in die Auslage stellt. Das klare Benennen des Unrechts und die Fragen nach Schuld und Sühne werden in den Abstellraum der Geschichte oder in den Keller der finsteren Vergangenheit verbannt.

Ruth Klüger, die als Kind das KZ Theresienstadt und die Lager Auschwitz und Groß-Rosen überlebt hat, sieht hinter dieser Strategie die Absicht, ‚die neue Zeit‘ dafür zu nutzen, die Last der Kriegsschuld abzuschütteln, um wieder demonstrativ an der „Stärkung der eigenen moralischen Überlegenheit“ arbeiten zu können.

Dabei stören nur einige offene Fragen, die ich im Anschluss an Martin Pollaks „Kontaminierte Landschaften: Unruhe bewahren“ (2014) formuliere: Wo und wie gedenken wir der Tausenden namenlos gemachter Toten, die im Schatten des Krieges, oft ohne jeden kausalen Zusammenhang mit den Kriegshandlungen,  vor Ort umgebracht und heimlich verscharrten wurden? Wie leben wir in Gegenden unserer Heimat, die übersät sind mit unzähligen, nicht benannten und nicht bekannten Massengräbern? Wie leben wir mit diesem Verschweigen und Vertuschen von NS-Verbrechen in unserer Nachbarschaft – und wie mit der nachwachsenden Generation, die stolz darauf ist, dass ihre Väter von den Gerichten der österreichischen Nachkriegsgesellschaft entschuldet und vom demokratischen Österreich so rasch „integriert“ wurden?

Wer nie über solche Fragen nachgedacht hat, wird wahrscheinlich sagen: Wir leben einfach weiter so, wie bisher - Totengedenken hin oder her. Wir haben andere Sorgen, als uns um die „historische Wahrheit“ zu kümmern, wer nun die wirklichen NS-Opfer waren und wer die eigentlichen Täter.

Das mag als respektabler Standpunkt erscheinen. Die Frage muss aber erlaubt sein: Was sind denn heute diese „anderen Sorgen“? Haben diese nichts mit dem zu tun, was uns tagtäglich umgibt? Nichts mit dem massenhaften Elend und dem Tod, verursacht durch Unrecht und Gewalt?

Als vor 23 Jahren der bekannte deutsche Schriftsteller Hans Magnus Enzensberger eine kleine Denkschrift mit dem Titel „Die große Wanderung“ verfasste, hat er sie mit einer „Fußnote“ versehen, der er den Titel „Über einige Besonderheiten bei der Menschenjagd“ gab (Enzensberger 1994). Dies war nicht prophetisch gemeint sondern eine konkrete Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse. Damals wurde diese Schrift nicht für so aktuell empfunden wie heute, wo niemand mehr ignorieren kann, dass „die große Wanderung“ das europäische Streitthema Nummer eins ist, das Thema, das politisch zugespitzt wird auf das Ausmaß der Gewährung von Schutz und Asyl für Flüchtlinge, die aus Kriegsgebieten und aus den von Terror und Zerstörung heimgesuchten Ländern nach Europa fliehen.

Über den Zusammenhang von Krieg und Not, Migration und Flucht auf der einen Seite und Abschottung, Aussperrung und Gewalt auf der anderen Seite schrieb Enzensberger damals, dass in so einer Situation der Staat dazu neigt, seine Bürger zur „Menschenjagd“ zu ermutigen und ihnen Handlungsmodelle dafür vorzugeben.

 

Heute stehen wir hier vor einem Denkmal, auf dem an die 2.000 Namen von Menschen verzeichnet sind, die der Menschenjagd des Naziregimes zum Opfer gefallen sind. Einmal jährlich erinnern wir uns an sie. Wir denken an sie und geloben, niemals zu vergessen und „Nie wieder Krieg“. Diese Vorsätze sind richtig und notwendig. Nur: Lernen wir wirklich aus der Vergangenheit? Wenn ja, aus welcher Vergangenheit und führt das Lernen auch zu den richtigen Konsequenzen?

Die Skepsis, die in diesen Fragen anklingt, ist berechtigt, denn gleichzeitig sind wir Zeitzeugen von dem Umstand,

  • dass sich Millionen Menschen auf „die große Wanderung“ begeben müssen und dass Tausende auf dieser Wanderung spurlos verschwinden und nie dort ankommen, wo sie hin wollten, weil sie zurück geschickt wurden,
  • dass Hunderte von unbegleiteten Menschen-Kindern nicht mehr auffindbar sind, weil sie wahrscheinlich Opfer von Verbrechen wurden,
  • dass unzählige Menschen bei dieser „Wanderung“ im Mittelmeer umkommen und als Leichen irgendwo angeschwemmt und irgendwie namenlos „entsorgt“ werden.

Gleichzeitig werden wir Zeugen des Zynismus einer Politik, die diese Flüchtlingsbewegung zu einer Staatskrise und einem nationalen Notstand hochstilisiert und Milliarden Euro Steuergeld in das Hochrüsten von Polizei und Militär investiert. Diese Aufrüstung geht einher im Einklang mit einer massenwirksamen Sprachregelung. Die Verwendung von Ausdrücken wie Ausländerfluten, Ausländerkriminalität, Asylmissbrauch, Grenzmanagement usw. gibt Zeugnis von dieser Sprachregelung, die die herrschende Klasse zur Legitimation ihrer Abschottungspolitik verwendet.

Diese Begriffe, so schrieb Hans Magnus Enzensberger schon vor 23 Jahren, bauen nicht nur eine Angst- und Krisenstimmung auf, sie drücken gleichzeitig eine viel tiefere „Wahrheit“ aus, nämlich die: Unser „Wohlfahrtsstaat“ schützt nicht das Wohl der einzelnen Menschen sondern in erster Linie die „Werte“ und die Verhältnisse, die als unantastbar und „heilig“ hingestellt werden: das Kapital, den „freien“ Markt und den angehäuften Reichtum in privaten Händen.

Die logische Folge davon ist, dass Menschen aus Kriegs- und Armutszonen, die in die geschützten Bereiche der sog. Wohlfahrtstaaten flüchten wollen, als Bedrohung dieser heiligen Güter wahrgenommen werden.

Das und nichts anderes können wir heute hautnah erleben: Europa organisiert die „Menschenjagd“ auf Schutzsuchende mit allen bürokratischen, sicherheitspolizeilichen und militärischen Mitteln - zumindest an den Außengrenzen der „Festung Europa“. Innerhalb der Festung ergeht man sich in Lob auf die eigenen Abwehrmaßnahmen und bemängelt die „Integrationswilligkeit“ der Asylsuchenden.

Wir können mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit sagen: Es wird in naher Zukunft keine Regierung geben, die eine andere als diese altbewährte Strategie vertreten wird.

Die Erinnerung daran, dass die Strategie der menschenverachtenden Jagd auf diejenigen, die zu bedrohlichen „Volksfremden“ erklärt werden, bereits vor mehr als 70 Jahren schon einmal in eine Eiszeit der Gefühle und in eine Eskalation der Gewalt geführt hat, diese Erinnerung scheint verblasst bzw. total verdrängt zu sein.

Wolfgang Sofsky schrieb schon vor 20 Jahren, dass der Preis dieses Verdrängens sehr hoch ist: Eine staatliche Ordnungsmacht, die ihr politisches Handeln auf nationalen Egoismus, Ellenbogenmentalität und Machterhalt stützt, verbreitet Angst und verstärkt die Gewaltbereitschaft aller. In seinem „Traktat über die Gewalt“ schrieb Sofsky (1996, S. 13) nicht als Vorausschau sondern als Analyse:

Erneut kehrt die Angst zurück, steigt an, wechselt Grund und Form. Die Gewalt schwindet mitnichten, sie ändert nur ihr Gesicht. (…) Das Regime der totalen Ordnung schafft den Untertan, den Konformisten, den Außenseiter – und das Menschenopfer, das dem Gott des Staates dargebracht wird.

 

Wer an dieser Stelle nicht nur an die „Menschenopfer“ denkt, die das NS-Regime, das ja auch einen extremen Typ von „staatlicher Ordnungsmacht“ verkörperte, gefordert hat, sondern wer auch an die anonymen „Menschenopfer“ denkt, die Woche für Woche an den Stränden Nordafrikas, Griechenlands und Italiens angespült werden, der hat sich zumindest eine gute Portion Unrechtsbewusstsein und den Willen zur Empörung und zum Protest bewahrt. Diese „Menschenopfer“ gehen nicht nur zu Lasten der prekären Lebensbedingungen in den korrupten und kriminellen Regierungen der Herkunftsländer sondern auch zu Lasten unserer staatlichen westlichen Ordnungsmächte, die fundamentale Menschenrechte missachten.

Dieses Denkmal am Grazer Zentralfriedhof, sehr geehrte Damen und Herrn, führt uns Menschen und ihr Schicksal vor Augen, die in der Nazizeit als bedrohliche Feinde oder als überflüssige Esser betrachtet und für rechtlos erklärt wurden, um sie dann gnadenlos aus der „Volksgemeinschaft“ entfernen und vernichten zu können. Vielleicht ist es auch ein Verdienst dieser Gedenkstätte und solcher Veranstaltungen, dass die Menschen, die heute die Mahnung dieses Denkmals beherzigen, die Gegenwart und die Zukunft (durch den Spiegel der Vergangenheit) besser verstehen können und sich anders verhalten werden, als dies die herrschende Ordnungsmacht empfiehlt bzw. vorschreibt.

Andernfalls wird Hans Magnus Enzensberger Recht behalten, der 1994 schrieb:

Je heftiger sich eine Zivilisation gegen eine äußere Bedrohung zur Wehr setzt, je mehr sie sich einmauert, desto weniger hat sie am Ende zu verteidigen.

Was aber die Barbaren angeht, so brauchen wir sie nicht vor den Toren erwarten. Sie sind immer schon da.

Wenn Sie nur diesen einen Satz, „Was aber die Barbaren angeht, so brauchen wir sie nicht vor den Toren erwarten. Sie sind immer schon da“, mit nach Hause nehmen, so hat die heutige Veranstaltung bereits „Nachhaltigkeit“ bewiesen. Schauen Sie um sich, dann werden Sie in dieser Aussage von Hans Magnus Enzensberger zumindest einen wahren Kern entdecken. - Und seien Sie bitte weiterhin wachsam, was die „Barbaren“ innerhalb der Festung Europa betrifft!

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