NS-„Volksgemeinschaft“ und Lager im Zentralraum Niederösterreich. Geschichte – Kontaktzonen – Erinnerung
Im Zentralraum NÖ befanden sich in der NS-Zeit mindestens 60 – teilweise unerforschte, in Vergessenheit geratene – Lager, in denen Ausgegrenzte und ZwangsarbeiterInnen von der „Volksgemeinschaft“ separiert wurden. Trotz der Bemühungen der Nationalsozialisten, einen „reinen Volkskörper“ zu erschaffen, hielten viele ausländische zivile Arbeitskräfte („slawische Ostarbeiter“) sowie Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge Industrie und Landwirtschaft aufrecht. Im „Reichsgau Niederdonau“ waren im August 1944 bereits 32,26 % aller Beschäftigten ausländische ZwangsarbeiterInnen.
Um den Kontakt zwischen der „Volksgemeinschaft“ und den Ausgegrenzten zu verhindern bzw. möglichst gering zu halten, wurden die zur Zwangsarbeit eingesetzten ausländischen ArbeiterInnen, KZ-Häftlinge, Justizhäftlinge, Kriegsgefangene, Roma und Sinti und ungarisch-jüdische Familien in „Exklusionslagern“ untergebracht. Kontakte zwischen Inhaftierten und Angestellten (Wachpersonal, Verwaltungspersonal etc.) sowie Zivilbevölkerung ließen sich nicht vermeiden und waren vor allem gegen Kriegsende Normalität des Arbeits- und Alltagslebens. „Kontaktzonen“ ergaben sich beispielsweise durch den Import und Export von Produkten aller Art, die Beseitigung der Leichen und Ermordeten außerhalb der Lagergelände und Überstellungen von verletzen oder erkrankten ZwangsarbeiterInnen in die umliegenden Krankenhäuser (St. Pölten, Melk, Krems). Durch Arbeitseinsätze und die teilweise Unterbringung in Privatbetrieben und auf Höfen ergaben sich aber auch alltägliche Interaktionen und engere Kontakte zwischen der Zivilgesellschaft und ZwangsarbeiterInnen. Die jeweiligen Kontaktzonen, vor allem die Zuwiderhandlungen, Brüche, Sanktionen und (Wechsel-)Wirkungen sollen im Zuge des aktuellen Projekts thematisiert und erforscht werden. Als Referenzraum für den NÖ Zentralraum gelten die 1937 bestehenden politischen Bezirke und Gerichtsbezirke Krems, St. Pölten, Lilienfeld, Melk und Tulln.
Neben der Dokumentation und Auswertung etwaiger baulicher und materieller Überreste und Objekte, werden im Zuge des Forschungsprojekts vor allem auch private bildliche und schriftliche Quellen wie Lebenserinnerungen, Fotos und Briefe, Tagebuchaufzeichnungen, Familienerzählungen etc. gesammelt, der Forschung zugänglich gemacht und nachhaltig gesichert. Hier wird stark auf BürgerInnen-Beteiligung gesetzt: Citizen Scientists verfügen oft über besonders relevantes Privatwissen bzw. Familienwissen zu beispielsweise Lagerstandorten, Inhaftierten und Kontakten mit ZwangsarbeiterInnen. Die vertiefte Auseinandersetzung mit der eigenen Lokalgeschichte soll zudem auch zu einer Erweiterung der Wahrnehmungsperspektive auf die Opfer und Betroffenen sowie die OrtsbewohnerInnen führen. Folgende Fragen sind dabei zentral: Wie nimmt die Bevölkerung etwaige bauliche Überreste wahr? Gibt es eine im regionalen Gedächtnis verankerte Lager-Geschichte? Wurden Erzählungen über die Häftlinge und ZwangsarbeiterInnen weitergeben?
Der aktuelle Forschungsstand wird durch die Arbeit der HistorikerInnen Edith Blaschitz (UWK), Janina Janina Böck-Koroschitz (Injoest), Christoph Lind (Injoest) und Philipp Mettauer (Injoest) verbessert, in Vergessenheit geratene Lager im Zentralraum NÖ sollen wieder ins Bewusstsein geholt und im lokalen kollektiven Gedächtnis sowie der transnationalen Erinnerungslandschaft nachhaltig verankert werden. Die Bildungswissenschafterin und NÖ Netzwerk-Koordinatorin Tina Frischmann (Injoest) betreut die Citizen Science-Aktivitäten.
Noch sei es möglich, mit letzten ZeitzeugInnen und deren Nachkommen etwas ans Licht zu holen, so Keil: „Wir hoffen, dass wir durch Mundpropaganda, durch Veranstaltungen, die wir machen werden, aber auch durch Gemeindebibliotheken Leute finden, die ein Privatwissen – oder besser, ein Familienwissen – haben: von den Lagerstandorten, den Inhaftierten und den Kontakten mit ihnen.“
Bereits eine Woche nach den ersten Medienberichten haben sich viele Citizen Scientists mit bemerkenswerten Quellen gemeldet. Interessierte BürgerInnen, die aktiv mitforschen und/oder ihre Quellen, Erzählungen etc. zur Verfügung stellen wollen werden weiterhin gesucht!
Allgemeine Anfragen zum Projekt sowie Kontaktmöglichkeit für Citizen Scientists per Mail: office@injoest.ac.at
Das Forschungsprojekt wird vom Institut für jüdische Geschichte Österreichs (Injoest) in Kooperation mit der Universität für Weiterbildung Krems (UWK), dem NÖ Landesarchiv, dem NÖ Institut für Landeskunde und den NÖ Gemeindebibliotheken, „Treffpunkt Bibliothek“ sowie den Topotheken Krems und St. Pölten durchgeführt. Das 3-jährige Projekt startete im Jänner 2022 und wird von der Abteilung Wissenschaft und Forschung des Landes Niederösterreich gefördert. Projektleitung: PD Dr. Martha Keil.
Zuordnung
- Region/Bundesland
- Niederösterreich