Lernkartei: Nicht in die Schultüte gelegt. Schicksale jüdischer Kinder 1933-1942 in Berlin. Anne Frank Zentrum. Berlin. 2010
Die Kartei gliedert sich in die Teilbereiche:
Erster Schultag
Schulzeit
Freunde
Familie
Jüdisch sein
Name
Verlust
Besonderheit
Spielen
Wohnen
Berlin
Je nach vorhandener Quellenlage finden sich zu diesen Teilbereichen Informationen zum Leben und Schicksal der einzelnen ZeitzeugInnen.
Auf der Rückseite jeder Informationskarte erhalten die Kinder Arbeitsaufträge, die sich den didaktischen Kompetenzbereichen: Nachdenken, Recherchieren, Erzählen, Vergleichen, Vermuten, Gestalten, Weitererzählen, Sich hineinversetzen und Präsentieren zuordnen lassen. Diese Kompetenzen werden in beiliegenden Karteikarten/ Lernwerkstatt extra beschrieben und Handlungsanleitungen gegeben.
Anmerkung (SL):
Diese Karteikarten sind sehr übersichtlich und schildern das Schicksal dieser Menschen nach den methodisch-didaktischen Richtlinien der Holocausterziehung. Daher erscheinen sie für den Einsatz im Unterricht gut geeignet. Teilweise haben einzelne Karteikarten viel Text, bzw. haben einen nicht allzu leicht verständlichen Inhalt. Hier ist die Mithilfe der Lehrpersonen in jedem Fall erforderlich. Anderes erklärt sich wieder von selbst. Besonders hervorzuheben ist, dass sich die Karteikarten auch mit dem Schul- und Kinderalltag beschäftigen. Damit ist den Kindern im Unterricht ein Bezug zur eigenen Lebensrealität möglich. Die Geschichten berichten von Menschen, die teilweise überlebt haben, aber sie berichten auch von Tod und Verlust. Damit ist eine wichtige Forderung der Holocaust Education (und des Sachunterrichts) erfüllt- die Geschichte nicht beliebig zu reduzieren, sondern kindgemäß Geschehenes zu rekonstruieren.
Die Karteikarten der Lernwerkstatt lassen sich auch für andere Arbeiten im Sachunterricht verwenden.
Weitere Informationen zu dieser Lernwerkstatt und zur Holocaust Education in der Grundschule finden Sie:
Beschreibung der Autorin Veronika Nahm:
Beschreibung des Materials
Das didaktische Material ist zum Einsatz in Lernwerkstätten und in außerschulischen Lernumfeldern gedacht. Schülerinnen und Schüler der Klassen 4 bis 6 können in einem selbstbestimmten Lernprozess während eines längeren Zeitraums zur Zeit des Nationalsozialismus
und zu den Kinderrechten arbeiten.
Die Kinder begegnen sieben Zeitzeuginnen und Zeitzeugen in insgesamt 69 Geschichten.
In deren Erinnerungen erfahren die Kinder etwas über ihren Alltag in den 1930er Jahren: den ersten Schultag, die Familie, die Freunde, das Wohnumfeld in Berlin und ihre Hobbys. Die Quellengrundlage sind kurze Texte, die Autobiografien, transkribierten Interviews oder persönlicher Korrespondenz entnommen wurden. Sie sind mit
Abbildungen kombiniert, die kostbare Dinge aus dem persönlichen Besitz zeigen: das Klassenfoto, das Schulzeugnis, den Reisepass mit dem Visum für Palästina oder den Eintrag der besten Freundin ins Poesiealbum.
Die Zeitzeugen haben drei Dinge gemeinsam: Alle sind in Berlin zur Schule gegangen, alle wurden als Jüdinnen und Juden zur Zeit des Nationalsozialismus verfolgt und alle haben die Schoa überlebt. In ihren Erinnerungen stehen die Geschichten von Verlust, Diskriminierung und Verfolgung neben den »guten<< Erinnerungen an die Kindheit. Den Autorinnen und Autoren des Materials war es wichtig, die Zeitzeugen nicht ausschließlich als Opfer des Nationalsozialismus zu zeigen, sondern auch deren »normalen<< Alltag lebendig zu schildern. Das Jüdisch-Sein der Zeitzeugen hat viele Facetten: Einige der Zeitzeugen wurden nicht, andere streng religiös erzogen. Die eine
ging in die Reformsynagoge, der andere in eine sephardische Synagoge. Die individuelle Selbstdefinition wird der rassistischen Zuschreibung durch die Nationalsozialisten entgegen gestellt. Über die Alltagsgeschichten ergeben sich Bezüge zur Lebenswelt der
Kinder heute. Sie entdecken Gemeinsamkeiten, weil sie z.B. auch gerne Fußball spielen oder weil sie sich ebenfalls auf ihren ersten Schultag und die Schultüte gefreut haben.
Jede kurze Geschichte wird von didaktischen Fragen begleitet, die einem festen Schema folgend drei Bereiche thematisieren: Die erste Frage richtet sich auf die Text oder Bildquelle und soll zu ihrem Verstehen beitragen. Die Kinder sollen zum Beispiel
einen erwähnten Ort auf einer historischen und einer aktuellen Karte von Berlin suchen.
Historische Begriffe und Fremdwörter werden in einem Glossar erklärt. Die zweite Frage zielt allgemein auf einen Vergleich der Lebenswelten der Kinder damals und heute ab. Wenn dabei in der Quelle oder in der Lebenswelt der Kinder heute ein Verstoß gegen die Kinderrechtskonvention vorliegt, wird unter dem Stichwort •Weiterdenken• auf den entsprechenden Artikel verwiesen.
Zwei Beispiele: Ruth Recknagel erinnert sich, dass ihr Lehrer ihr 1938 verbot, weiter auf die (nich\iüdische) Grundschule zu gehen. Die Frage an die Kinder lautet, wie sie das Verhalten des Lehrers beurteilen. Es wird auf Artikel 28 der Kinderrechtskonvention verwiesen, der das Recht auf Schulbildung beinhaltet. Der Zeitzeuge lsaak Behar beschreibt, dass seine Eltern bei seinem ersten Schultag nicht mit in die Schule gingen, weil Deutsch nicht ihre Muttersprache war und sie sich unsicher fühlten. Die Frage an die Kinder lautet, ob es an ihrer Schule Unterstützungsmöglichkeiten für Eltern nichtdeutseher Muttersprache gib t. Es wird auf Artikel 2 der Kinderrechtskonvention
verwiesen, der Kindern den Schutz vor Diskriminierung auch aufgrund ihrer Herkunft garantiert.
Die dritte didaktische Frage setzt die Aussagen aller sieben Zeitzeugen in Beziehung zueinander, um Gemeinsamkeiten und Besonderheiten sichtbar zu machen. Zur Bearbeitung der Fragen werden den Kindem Umgangsweisen vorgeschlagen. Dieser Begriff aus der Sachkundedidaktik meint Methoden der Erarbeitung eines Themas, wie beispielsweise befragen, beschreiben, diskutieren, gestalten, präsentieren oder sich positionieren. Die passenden Umgangsweisen werden neben den Fragen aufgeführt und auf jeweils einer eigenen Karte erklärt.
Eine Version des Lernwerkstattmaterials, die zusätzlich zu den oben beschriebenen Bestandteil en mit Filmen, Büchern , Plakaten und histo rischen und aktuellen Wandkarten ausgestattet ist, steht in der Lernwerkstatt der Schule am Falkplatz allen Grundschulen und der außerschulischen Bildung offen. In der Schule selbst arbeiten in diesem Schuljahr alle vierten Klassen mit dem Material. Die wissenschaftliche Evaluierung dieser praktischen Erprobung ist geplant. Um Lernbegleiterinnen und Lernbegleitern die Arbeit mit dem Material zu erleichtern, erarbeitet das Anne Frank Zentrum eine didaktische Handreichung und bietet Fortbildungen an.
Was ist an dem neuen Lernmaterial innovativ?
Das Lernmaterial ist in verschiedener Hinsicht innovativ: Es gibt bisher noch kein Lernmaterial für Lernwerkstätten zum historischen und sozialen Lernen. Die Materialien bearbeiten bisher naturwissenschaftliche Themen wie z.B. das Thema Wasser, Klima,
Schwerkraft usw. Es gibt auch noch kein Lernmaterial zum Thema Nationalsozialismus, das sich explizit an Kinder der Kl assen 4 bis 6 wendet. Und es gibt vor allem noch kein Material, dass die Themen historisches Lernen und Menschenrechtsbildung verbindet.
Diese Art der Verknüpfung zwischen Vergangenheit und Gegenwart ist ein vielversprechender Weg. Die Rückbindung von Diskriminierungserfahrungen der Zeitzeugen an die Kinderrechte hilft den Kindern, ihre spontane Empörung über die Ungerechtigkeit auf eine abstraktere, politische Ebene zu heben. Die Verbindung der Kinderrechte mit ihrem eigenen Leben hilft, den Kindern eine positive Perspektive zu geben und sie zu ermuntern, die Verbesserung ihrer Situation selbst in die Hand zu nehmen.
http://www.annefrank.de/uploads/media/Gedenkstaettenrundbrief.pdf
Rezension:
Empfehlung Unterrichtsmaterial
Nicht in die Schultüte gelegt
In einem Gemeinschaftsprojekt des Anne Frank Zentrums mit Prof. Dr. Detlef Pech (Professor für Grundschulpädagogik, Schwerpunkt Sachunterricht an der Humboldt-Universität zu Berlin) und der Stiftung Neue Synagoge – Centrum Judaicum wurde Lernmaterial mit dem Titel „Nicht in die Schultüte gelegt. Schicksale jüdischer Kinder 1933-1942 in Berlin“ für Schülerinnen und Schüler der vierten bis sechsten Klasse entwickelt. Anhand von Geschichten über sieben Zeitzeug/innen aus Berlin, die als Juden und Jüdinnen im Nationalsozialismus verfolgt wurden und die Shoa überlebten, können Kinder zum Thema Nationalsozialismus und zu Menschenrechten arbeiten. Das Material wurde zusammen mit 150 Berliner Grundschülerinnen und – schülern getestet und weiterentwickelt.
Inhalt
In Form von Karteikarten im A5-Format mit vielen Bildern werden die einzelnen Personen, ihre Familie, ihre Freunde und Schulzeit vorgestellt. Abgeleitet vom Titel des Projektes ist jeweils unter anderem auch ein Bild vom ersten Schultag zu sehen. Auf weiteren Karteikarten befinden sich zudem Informationen zur Bedeutung von Religion, zum eigenen Namen, zu einer Besonderheit dieser Person oder Familie, zum Lieblingsspiel, zum Bezug zur Geburtsstadt Berlin und zum Verlust der gewohnten Umgebung und der eigenen Familie. Die didaktische Arbeit kann anhand der einzelnen Biografien oder mit den jeweiligen Kategorien erfolgen. So kann zum Beispiel verglichen werden, wie die unterschiedlichen Personen zum Thema Religion stehen oder wie sie ihre eigene Schulzeit beschreiben. Die Texte sind sehr knapp und sollen zum Nachdenken sowie zum Weiterrecherchieren anregen. Auf der Rückseite jeder Karteikarte stehen Fragen und Aufgaben nach einem Schema sortiert: die erste Frage dient dem Verständnis der Text- oder Bildquelle auf der Vorderseite, mit der zweiten Frage/Aufgabe sollen die Schülerinnen und Schüler ihre eigene Lebenswelt mit der Person vergleichen und der dritte Teil verbindet die Biografien untereinander.
Werkzeuge
Bei allen Fragen werden den Kindern und Jugendlichen „Werkzeuge“ zur Beantwortung vorgeschlagen, zum Beispiel: Recherchieren, Erkunden, Dokumentieren, Erzählen, Präsentieren, Diskutieren, sich Positionieren. Für jede dieser Handlungsmöglichkeiten gibt es ebenfalls eine Karteikarte, die Fragen aufzeigt, die hilfreich sein können, um zu Recherchieren, Erkunden, Dokumentieren usw. und nachher die Ergebnisse zu sichern.
Fazit
Das Material zeichnet sich durch die interessanten Biografien und ihre übersichtliche Aufarbeitung aus. Ziel ist es mit jüngeren Schülerinnen und Schülern historisch-politische Bildungsarbeit an außerschulischen Lernorten oder in Lernwerkstätten in Schulen zu gestalten. Die vorliegenden Materialien bieten dazu vielfältige Möglichkeiten indem zu einzelnen Biografien gearbeitet werden kann oder einzelne Stationen/Punkte im Leben der Zeitzeug/innen herausgegriffen werden. Da immer wieder ein Bezug zur UN-Kinderrechtskonvention hergestellt werden kann, bietet das vorliegende Material auch die Möglichkeit mit den Kindern und Jugendlichen zum Thema Menschenrechte zu arbeiten.
Eine Version des Lernmaterials zusammen mit Filmen, Büchern, Plakaten, historischen und aktuellen Wandkarten befindet sich in der Schule am Falkplatz Berlin und steht allen Grundschulen offen. Das Anne Frank Zentrum steht derzeit in Verhandlungen mit einem Verlag um einen Druck des Materials zu ermöglichen. Aktuelle Informationen befinden sich auf der Internetseite des Anne Frank Zentrums, dort stehen auch das dazugehörige Glossar und eine Projektdokumentation zum Download bereit. Fragen zur Bestellung und Verwendung des Materials beantwortet Veronika Nahm, Mitarbeiterin des Anne Frank Zentrums.
http://lernen-aus-der-geschichte.de/Lernen-und-Lehren/content/10740