Gisela Hormayr: Aufbruch in die >Heimat des Proletariats<. Tiroler in der Sowjetunion 1922-1938
Annähernd 80.000 ÖsterreicherInnen entschlossen sich in der Zwischenkriegszeit, ihre Heimat zu verlassen. Die Suche nach Arbeit und Verdienst führte eine deutliche Mehrheit unter ihnen nach Nord- und Südamerika, mit besonders hohem Emigrantenanteil aus dem Burgenland, Wien, der Steiermark und Niederösterreich und einer vergleichsweise geringen Zahl von Auswanderern aus den westlichen Bundesländern.
Mehr als 3.000 Österreicher entschieden sich für die Sowjetunion. Ehemalige in russische Kriegsgefangenschaft geratene Soldaten der k.u.k. Armee blieben im Land oder kehrten nach ihrer Entlassung dorthin zurück, andere beteiligten sich an (meist kurzlebigen) in Österreich beworbenen Siedlungsprojekten. Ende der 1920er Jahre verstärkte die Sowjetunion erfolgreich ihre Bemühungen um eine Rekrutierung von westlichen Facharbeitern und Ingenieuren. Am Höhepunkt der Weltwirtschaftskrise war das Angebot eines gesicherten Einkommens auch für viele Österreicher attraktiv. Neben wirtschaftlichen Motiven stand die von europäischen Intellektuellen mitgetragene Begeisterung für das sozialistische Experiment. Zahlreiche Arbeiterdelegationen besuchten die Sowjetunion und erlebten auf propagandistisch gut vorbereiteten Rundreisen den Aufbau einer neuen Gesellschaft.
Nach der Niederwerfung des Februaraufstands 1934 bot die Sowjetunion Hunderten Schutzbündlern und ihren Familien Sicherheit und die Chance, an diesem Aufbau mitzuwirken. Andere Österreicher, Kader der seit 1933 verbotenen KPÖ, befanden sich zu Schulungszwecken im Land und besuchten Kurse der Internationalen Leninschule in Moskau. Die 1935 einsetzenden Wellen brutaler „Säuberungen“ erfassten auch Ausländer, die sich, unabhängig von politischen Überzeugungen, nun mit dem Generalverdacht „konterrevolutionärer“ Betätigung und Spionage konfrontiert sahen.
Unter den erwähnten Gruppen von Auswanderern und Politemigranten – und am Ende Opfern des Stalinschen Terrors – waren auch Tiroler. Ihren Spuren wird in der vorliegenden Studie nachgegangen. Sie verfolgt die Lebenswege des Schriftstellers Thomas Moser aus Erl und des Stubaier Bauern Josef Hofer, der es zum Bürgermeister einer sibirischen Kleinstadt brachte, ebenso wie die des Innsbrucker Sozialdemokraten Otto Deschmann, des Chemiestudenten Emmerich Übleis o der des Leninschülers Romed Pucher. Ausführlich dargestellt werden die Folgen der Februarkämpfe 1934 im Raum Wörgl anhand des gut dokumentierten Schicksals der Familie Sappl. Johann Sappl, Bergmann und Schutzbundkommandant aus Häring, gelang die Flucht in die Schweiz und von dort 1935 mit Frau und drei Kindern nach Moskau. Er wurde 1938 als „Spion“ zum Tod verurteilt und erschossen. Ehefrau Barbara und die Kinder konnten 1939 bzw. 1940 nach Tirol zurückkehren, standen aber unter ständiger Beobachtung der Gestapo und erfuhren erst Jahre später, dass Johann Sappl längst nicht mehr am Leben war. Hans Sappl, der ältere Sohn, wurde schließlich wegen angeblicher NS-kritischer Äußerungen denunziert und von einem Militärgericht verurteilt. In der Haft schwer erkrankt, überlebte er das Kriegsende nur um wenige Wochen.