Fluchtpunkte im Unterricht - Erfahrungsbericht
Ich habe das Unterrichtsmaterial „Fluchtpunkte“ im Dezember 2019 in der Berufsschule für Gastgewerbe Wien mit einer Klasse angehender Restaurantfachleute ausprobiert. Die Klasse war insofern speziell, als dass es sich um Erwachsene im Alter von ca. 25 bis 30 Jahre handelte, die eine Lehre im zweiten Bildungsweg absolvieren. Fast alle der 15 SchülerInnen hatten Migrationshintergrund, einige auch Fluchterfahrungen.
Weshalb mit "Fluchtpunkte" unterrichten?
Die Anlässe, dieses Material zu verwenden waren vielfältig: Erstens gab es ein großes Interesse, sich mit der Geschichte des Nahen Ostens zu beschäftigen, auch, weil viele der SchülerInnen aus dieser Region stammten. Zweitens wollten die Erwachsenen mehr über österreichische Zeitgeschichte erfahren. Nicht zuletzt traten im Unterricht oft undifferenzierte Kritik an Israel und gefährliches Halbwissen zum Nahostkonflikt zutage. Vor allem das Denken in zwei ganz klar feindlich gegenüberstehenden Blöcken beunruhigte mich. Das Lernmodul „Puzzle des Lebens“, das ich gewählt habe, war für diese Situation wirklich ideal geeignet.
Fremde und eigene Flucht- und Diskriminierungserfahrungen
Der Einstieg ins Modul – das Rekonstruieren der Lebensgeschichten der ProtagonistInnen – war für manche etwas langweilig. Vielleicht ist diese Übung für Erwachsene zu einfach. Die Lebensgeschichten selbst jedoch und die damit verbundenen Themen haben die SchülerInnen brennend interessiert. Sie haben sehr genau gelesen, Antworten auf die Fragen nach Fluchterfahrungen, Umgang mit Diskriminierung und Antisemitismus als Fluchtgrund diskutiert, sich gegenseitig Zusammenhänge erläutert und Fragen gestellt („Warum ist Sami Michael gleichzeitig Araber und Jude? Gibt es in Israel auch Muslime? Warum musste er aus Bagdad flüchten?“). Vor allem aber gelang es im Zuge der Unterrichtseinheit, die sich im Endeffekt über 3 UE erstreckte, sehr gut an eigene Erfahrungen anzuknüpfen und Raum für eigene Erzählungen über Flucht, Fremdheit und Diskriminierung zu bieten. Außerdem stellten die Erwachsenen ausgehend von den Lebensgeschichten viele Fragen über die Geschichte des Nahen Ostens und die Geschichte Österreichs in diesem Kontext. Am Ende stand ein reger Austausch über Diskriminierung, mehr Verständnis für geschichtliche Zusammenhänge und die Bereitschaft, die Konflikte im Nahen Osten differenzierter zu sehen als die meisten es gewohnt waren.
Am wichtigsten erscheint mir jedoch, dass die SchülerInnen ausgehend von den Unterrichtsmaterialien selbst Fragen formuliert haben, selbst nach Erklärungen gesucht haben und offenbar eine angenehme und anregende Lernerfahrung hatten. Am Ende hat mir z.B. ein Schüler mit Wurzeln im Irak gesagt, dass er in einer österreichischen Schule noch nie etwas über die Geschichte des Irak gehört hat und dass ihn das sehr gefreut hat.