Antisemitische Verschwörungstheorien und -ideologien
Verschwörungstheorien bzw. -ideologien und Antisemitismus nutzen die gleichen Argumente und unterstützen und stärken sich gegenseitig. Ganz selten gibt es das eine ohne das andere. So gut wie immer besteht ein Phantasma von Macht, das eine Zuschreibung von besonderen Eigenschaften, Absichten, konspirativer Pläne und Handlungen beinhaltet. Gesteigert drückt sich dies in einer verschwörungsideologischen Weltsicht aus, durch die Vorwürfe der Illoyalität, Separation und Konspiration formuliert werden. Antisemitismus kann sich auch als (vermeintliche) Kapitalismuskritik ausdrücken, indem jüdische AkteurInnen identifiziert und für Missstände verantwortlich gemacht werden.
AntisemitInnen heben ihr Feindbild nach „oben“, sie halluzinieren eine jüdische Überlegenheit, die sie sowohl in konkreten Personen wie auch als abstraktes Feindbild („die Juden“) bekämpfen. Diese Zuweisung von Macht ist der wesentliche Unterschied: Im Rassismus wird die Aggression nach unten gerichtet, „die Anderen“ werden als minderwertig gesehen und das Feindbild ist meist auf konkrete Individuen oder Gruppen gemünzt.
Der Antisemitismus als Weltbild, das komplexe Wirklichkeit reduziert und als allgemeingültige Erklärung funktioniert, hat eine identitätsstiftende Funktion, die soziale Differenzen überbrückt und ein Wir-Gefühl bildet.[1] Um diesen Weltbild-Konstruktionen didaktisch zu begegnen, werden kollektive Identitäten hinterfragt und Identitätsbilder angeboten, welche die Zugehörigkeit zu unterschiedlichen kulturellen Räumen positiv besetzen.
Antisemitismuskritische Bildungsarbeit hat eine Infragestellung von Gewissheit und Eindeutigkeit zum Ziel, sowie eine Verhandlung und Bearbeitung von Mehrdeutigkeit und Unsicherheit. Der Umgang und das Aushalten von Komplexität, Konflikten, Pluralismus, Differenz, Widersprüchen und Ambivalenzen soll erlernt werden.[2] In der Schule benötigen das Erlernen und Üben des Aushaltens einen neutralen und angstfreien Raum (um sich artikulieren zu können), genügend Zeit (sich mit dem Gegenstand in ein Verhältnis setzen zu können) und Verlässlichkeit und Vertrauen (in die Möglichkeit der auswirkungsfreien Artikulation genauso wie in die klaren Grenzen).
Eine Didaktik, die Verschwörungstheorien dekonstruiert, muss den Dualismus der Verschwörungstheorie aufbrechen, zu einer erhöhten Medienkompetenz beitragen, gemeinsam auf die Suche nach Antworten gehen, eine moralisierende und belehrende Haltung vermeiden und Fakten für eine alternative Lesart anbieten.
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[1] vgl. Monique Eckmann: Gegenmittel. Bildungsstrategien gegen Antisemitismen, Frankfurt am Main 2020
[2] vgl. Mirko Niehoff, Amina Nolte: Widerspruchstoleranz in der politischen Bildung, Berlin 2019
Lernmaterialien
Die Welt am Abgrund. Planspiel zu antisemitischen Verschwörungstheorien
Amadeu Antonio Stiftung: Die Welt am Abgrund. Planspiel zu antisemitischen Verschwörungstheorien. Berlin 2018
ab 13 Jahren, 200 Min.
Dieses Planspiel hilft dabei, mit Jugendlichen über Wirkungsweisen von Verschwörungstheorien zu reflektieren und den in ihnen enthaltenen Antisemitismus besser zu verstehen. Ein Planspiel, in welchem der Reiz von Verschwörungstheorien dargestellt, erlebbar gemacht und reflexiv betrachtet wird, um damit einen weiteren Einstieg in Verschwörungsideologien bei SchülerInnen zu verhindern bzw. Abwendungsprozesse zu initiieren und den Zusammenhang mit Antisemitismus zu reflektieren.
„Oh what a World“ – Zum Einstieg in das Verschwörungsdenken (Rollenspiel)
Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus: Anders Denken. Die Onlineplattform für Antisemitismuskritik und Bildungsarbeit. Berlin
ab 14 Jahren, 45 Min.
Nach gemeinsamer Reflexion über persönliche Wahrnehmungen und (Selbst-)Verortungen in der Welt erleben die Teilnehmenden eine spielerische Annäherung an verschwörungstheoretische Argumentationen. Miteinander analysieren und diskutieren sie kommunikative und inhaltliche Schwierigkeiten und Gegenstrategien in der Konfrontation mit Verschwörungsdenken. Die Teilnehmenden werden dafür sensibilisiert, dass die Welt komplex und oft schwer überschaubar ist.
Verschwörungstheorien in Geschichte und Gegenwart
Stephan Scharinger. In: Zentrum Polis: politik-lernen.at, Wien 2020
ab 15 Jahren, 250 Min. (5 UE)
Sehr umfangreiche Unterrichtseinheiten, die historisch wie aktuell auf Verschwörungstheorien eingehen und dabei unterschiedliche Medien nutzen. Thematisch wird der Bogen von einer kritischen Analyse konkreter Beispiele, über Definition und Merkmale bis zur Frage des Umgangs mit solchen „Theorien“ gespannt. Mit Arbeitsblättern, Hinweisen auf Videos und weiteren Ideen, das Thema mit SchülerInnen zu bearbeiten.
Krise und Verschwörung
Sapere Aude: „Keine Panik!“ Politische Bildung optimistisch und digital vermittelt, Wien 2020
ab 14 Jahren, 120 Min.
Themen der Einheit sind sowohl Fake-News wie Verschwörungstheorien und somit steht auch die Medien-Kompetenz im Zentrum. Anhand von Audio-Dateien, Texten und Eigenrecherche sollen Fakt und Fake auseinanderzuhalten gelernt werden. Bei einem Überblick über Verschwörungstheorien wird auch auf die „Protokolle der Weisen von Zion“ und somit den Antisemitismus verwiesen. Hier werden Kennzeichen und Funktionsweisen von Verschwörungstheorien thematisiert.
Die Fantasie von einer ‚jüdischen Verschwörung‘
Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus: Anders Denken. Die Onlineplattform für Antisemitismuskritik und Bildungsarbeit. Berlin
ab 14 Jahren, 45 Min.
Krude Vorstellungen von angeblicher Macht ‚der Juden‘ und deren vermeintlichen Strebens nach Weltherrschaft gehören zum festen Kern des Antisemitismus. Mittels einer Bildanalyse untersuchen die Teilnehmenden, die mit Merkmalen und Funktionen von Verschwörungstheorien bereits vertraut sein sollten, antisemitische Darstellungsweisen und Zuschreibungen.
Reichtum und Macht? – Das Gerücht über ‚die Juden‘
Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus: Anders Denken. Die Onlineplattform für Antisemitismuskritik und Bildungsarbeit. Berlin
ab 14 Jahren, 70 Min
Im Mittelpunkt dieser Methode steht die kritische Auseinandersetzung mit dem antisemitischen Mythos einer besonderen Affinität von JüdInnen und Geld. Die Teilnehmenden erkennen dieses antisemitische Stereotyp als solches und durchleuchten die dahinterliegenden falschen Argumentationsmuster und irrigen historischen Beweisführungen. Dabei werden sie auch für die Verbindung des Vorurteils vom ‚reichen Juden‘ mit antisemitischen Verschwörungstheorien sensibilisiert.
Handreichungen & Webtools
Obwohl es immer schon Verschwörungstheorien gab, ermöglicht das Internet heute eine beispiellose Verbreitung. Es ist daher nicht verwunderlich, dass Verschwörungstheorien zunehmend zu einem gesellschaftlichen Problem werden. Diese Broschüre geht daher den Fragen nach: Was sind Verschwörungstheorien eigentlich und warum glauben Menschen überhaupt an solche? Wie kann man Verschwörungstheorien definieren? Welche Rollen spielen Verschwörungstheorien in den Nachrichten und der Politik? Und wie können AkteurInnen der politischen Jugendbildungsarbeit dieser Problematik am besten begegnen, ohne sich selbst in bizarren Erklärungsversuchen zu verlieren? Grundlegende Aspekte zur Auseinandersetzung mit (antisemitischen) Verschwörungsideologien werden vorgestellt und methodische Überlegungen dazu angestellt.
Amadeu Antonio Stiftung:
»No World Order« Wie antisemitische Verschwörungsideologien die Welt verklären. Berlin 2015
Einführend wird auf zentrale Aspekte von Verschwörungsideologien eingegangen, wie antidemokratische Elemente und Antisemitismus. Darauf aufbauend werden Begriffe von Verschwörungsideologien, Ursachen, Funktionen sowie Gefahren besprochen. Im Praxisteil werden Tipps für die Vorbereitung einer pädagogischen Intervention gegeben und Handlungsempfehlungen beschrieben: keine dualistischen Weltbilder vertreten oder menschenfeindliche Inhalte offenlegen. Dabei werden folgende Möglichkeiten diskutiert: Satire, soziale Ächtung, Fragen als Mittel des Zweifels und das Bemühen mit Fakten gegen Verschwörungsideologien anzukommen. Ein Artikel geht abschließend noch auf die Verknüpfung von Antisemitismus und Verschwörungsideologien ein.
Landeszentrale für politische Bildung Baden-Württemberg:
Verschwörungstheorien. Warum sind sie so erfolgreich und was kann man tun? Stuttgart
Online-Dossiers zu folgenden Fragen: Wie funktionieren Verschwörungstheorien? Welche Rolle spielt das Internet in der Verbreitung von Verschwörungstheorien? Worin bestehen konkret die Gefahren in Verschwörungstheorien? Und wie können Verschwörungstheorien entkräftet werden? Auch eine ganze Reihe der bekanntesten Verschwörungstheorien werden kurz beschrieben, bis hin zu Verschwörungen rund um das Coronavirus. Die Motive werden anhand er Begriffe „Krisensymptom“, „Ersatz-Religionen“ und „Identitätsstiftung“ und darauf aufbauend spezifische Gefahren erläutert. Ein sehr langer Textabschnitt beschäftigt sich dann mit den „Reichsbürgern“. Im Abschnitt zu Antisemitismus und Verschwörungstheorien werden eingehender die „Protokolle der Weisen von Zion“ besprochen. Abschließend werden (didaktische) Handlungsmöglichkeiten gegen Verschwörungstheorien vorgestellt.
Texte
Juliane Wetzel: Antisemitische Verschwörungstheorien.
In: Bayerische Landeszentrale für politische Bildungsarbeit: Themenforum Antisemitismus. München 2020
Sehr detaillierter Beitrag inklusive Beispiele aus Österreich. Wetzel diskutiert die Verschwörungstheorien als Religionsersatz sowie als Begleiterscheinung von religiösem Fundamentalismus und definiert deren Gründe: „Sie bieten einfache, monokausale Erklärungsmuster für komplizierte Sachverhalte und erfüllen soziale Funktionen bzw. befriedigen psychologische Bedürfnisse.“ Nach einer Betrachtung vom Zusammenhang von Fiktion und Wirklichkeit wird ausführlich auf antisemitisch konnotierte Verschwörungsmythen bzw. deren Konnex zu antisemitischen Topoi eingegangen, wie „weltumspannenden“, „geheim“ oder „machtvoll“ sowie auf Israel als neuen konkreten Bezugspunkt. Die Mythen werden historisch hergeleitet, durch viele Beispiele erläutert sowie Kontinuitäten („Protokolle der Weisen von Zion“) sowie Veränderungen (die Verschiebung des Codes „Rothschild“ zu „George Soros“) nachgezeichnet.
Astrid Messerschmidt: Verbunden und getrennt – Antisemitismus- und Rassismuskritik.
In: Informations- und Dokumentationszentrum für Antirassismusarbeit in NRW (Hrsg.): Antisemitismus in Kontext von Rassismuskritik thematisieren, Überblick 4. Düsseldorf 2017, S. 3-6
Dieser Artikel fokussiert auf die Differenzierungen von Antisemitismus und Rassismus sowie die Zusammenhänge beider Denkmuster und politischen Praktiken. Die Unterscheidungen werden unter anderem in dem antisemitischen „Phantasma von Macht und Verschwörung“ verortet, wie in unterschiedlichen Schemata von „Wir und den Anderen“ und dem daraus resultierenden antisemitischen wie kolonial-rassistischen Bildern des „Anderen“. Aus den Unterschieden kann sich in der sozialen Realität auch eine Konfrontation von antirassistischen und antisemitismuskritischen Positionen ergeben, vor allem wenn es um den Nahen Osten geht. Daher besteht die Hauptforderung an eine didaktische Bearbeitung auch in einem Perspektivenwechsel, der auch Mehrdeutigkeiten zulässt.
Malte Holler: Antisemitische Verschwörungsideologien.
In: Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus: Anders Denken. Die Onlineplattform für Antisemitismuskritik und Bildungsarbeit. Berlin