Gerhard Zeillinger und Karl Schuber: Oświęcim. Reise nach Au
Zwei Reisende und ein Buch
Ein Schriftsteller – Gerhard Zeillinger – und ein Fotograf – Karl Schuber –, beide in ihren bisherigen Arbeiten mit der Wirklichkeit des Holocaust befasst, begeben sich auf eine Reise nach Oswiecim, deutsch Auschwitz, in den Protokollen der Gestapo lapidar Au genannt. Jeder für sich, zu getrennten Zeiten, aber mit dem Ziel, daraus ein gemeinsames Buch entstehen zu lassen. Behutsam nähern sie sich schreibend und abbildend dem Ort und seiner grausamen Geschichte. Auf den Spuren einzelner Schicksale, die Gerhard Zeillinger in den Archiven aufgespürt hat, verknüpft sich die Reise des Autors mit dem Transport der später Vernichteten. Gegenwart und Vergangenheit verschmelzen zu einem eindringlichen literarischen Dokument über Willkür und Hoffnungslosigkeit. Dem Text gegenüber stehen die Fotografien von Karl Schuber. Auch er beschreitet die Wege, die viele Hunderttausende gehen mussten. Sein Blick durch die Kamera sucht das Detail, das in seiner Prägnanz umso eindrücklicher und nachhaltiger wirkt.
Textprobe:
Was stand auf dem Koffer, mit dem Malvine am 8. Oktober 1943 hier angekommen ist? Malvine Teichmann, geb. Stiegler, geboren am 2. 3. 1889. Ihre Heimatadresse bis zum 26. August: Amstetten, Waidhofner Straße 43. Eine Anschrift, die längst bedeutungslos war, nur noch ein Vermerk, ordnungshalber, auf das frühere Leben. Malvines Wohnung wurde sofort aufgelöst, kaum dass die Gestapo sie verhaftet hatte. Seither war sie gemeldet: Polizeigefangenenhaus Wien IX, Roßauer Lände, ihr letztes Zuhause. Aber schreibt man eine solche Adresse auf einen Koffer, wenn man verreist?
Aus Kapitel: II
Oświęcim ist eine merkwürdig farblose Stadt. Die Ausdruckslosigkeit der Häuser und Straßen, das Grau zwischen den Himmelsrichtungen, als müsste es immer so bleiben, begleiten den Besucher vom ersten Augenblick an. Er tritt auf ein blass gewordenes Schnittmuster, das wie ein alter Stadtplan mit unverständlichen Koordinaten vor ihm liegt. Es ist immer noch dasselbe darin verzeichnet und die Wirklichkeit, die sich über dem Raster des Gewesenen erhebt, genauso befremdlich. Nur langsam verändern Licht und Schatten die Konturen und lösen das Geradlinige der Zeichnung wieder auf.
Das fremde Weichbild der Stadt zwischen Stammlager und Auschwitz II ist wie ein verbotenes Niemandsland. Die Wegweiser des Gedenkens, die man an vielen Straßenecken findet, benennen die Parallelstadt ordnungshalber, sie ist auf allen Karten eingezeichnet und kann nicht mehr gelöscht werden. Sie liegt wie ein Sperrbezirk in der Erinnerung. Mitten durch sie schneiden Ausfallsstraßen und streben aus dem Verhängnis hinaus.
In die Geografie der Orte aber bleibt das Entsetzen eingenarbt. Auschwitz besteht aus den Stadtteilen Stare Miasto, Stare Stawy, Domki Szeregow, Monowice, Pod Borem, Wschód, Zachód, Zasole und so weiter. Es sind bloß Namen, die man im Stadtplan von vorne und von hinten aufzählen kann, ohne dass es einen Unterschied macht. Was geschehen ist, ist hier in sein Ende zurückgetreten, als wäre es heimgekehrt in die Bedeutung, aber welche? Oświęcim erstreckt sich entlang den Ufern der Sola, der Fluss zieht in nördlicher Richtung. Nachdem er die Stadt in einen größeren Rechts- und einen kleineren Linksuferteil getrennt hat, verlässt er den besiedelten Bereich und mündet etwa einen Kilometer weiter in die Weichsel. Der Landstrich dazwischen ist das sogenannte »Interessengebiet des K.L.Auschwitz«, ein ungefähr 60 Quadratkilometer großes Sperrgebiet, aus dem nur die Stadt und der engere Bereich um den Bahnhof ausgenommen blieben. Von der Luft aus betrachtet zwei einander zaghaft berührende Teile, die schmalen Lappen zweier Lungenflügel.
»Die Stadt macht einen recht lebhaften Eindruck«, kann man irgendwo im Internet lesen, der Blog-Eintrag eines Besuchers, vielleicht ein Schüler. Der Unterschied zwischen den Plattenbausiedlungen im Osten und den Ziegelhäusern der Altstadt, von denen der Verputz abfällt, ist mehr gefühlsmäßig. Da und dort kann man die Zeit um 1900, ein wenig Jugendstil, die Eleganz, in der einmal alle zu Hause waren, noch erahnen...
Auf dem Friedhof steht das Gras so hoch, als wäre der Ort seit damals vergessen. Die Tage zwischen den Gräbern geschehen unbemerkt, ihre Schattenlinie fällt heimlich durch die Zeit, ihre Spur im Dickicht bleibt dem fremden Besucher verborgen. Er schließt das Friedhofstor mit dem Schlüssel auf, den er sich im Centrum Zydowskie besorgt hat. Jemand beobachtet ihn, eine junge Frau, die gerade vorbeigeht, Menschen in einem stadtauswärts fahrenden Auto. Er spürt den verachtenden Blick, als würde er etwas Ungehöriges tun.
Hier, zwischen der Gegenwart der Stadt und ihrer ausgelöschten Wirklichkeit, mitten im Vergilbten einer leer gewordenen Erinnerung, sucht er den Grabstein des letzten Juden von Oświęcim: Szymszon Kluger, beerdigt im Jahr 2000, als schon längst alles vorbei war. Er fragt sich: Ob es klug war, so lange zu leben, um am Ende als Einziger übrigzubleiben?
Andere haben es früher hinter sich gebracht. Die Juden von Oświęcim, liest er im Museumsführer, waren die Ersten, die ermordet wurden. Es ist nicht viel geblieben, eigentlich gar nichts. Die Thora- und Talmudschulen nahe des Rynek, das Haus des Rabbi Bombach, die heute nicht mehr vorhandene Judengasse, es gibt nicht einmal mehr den Namen. Die Juden von Oświęcim - zwei Drittel der Einwohner - sagten Oshpitzin zu ihrer Stadt. Das bedeutet »Gäste« im Jiddischen und sollte sagen, dass Auschwitz für sie ein freundlicher Ort war, an dem sie sich sicher fühlten...
Als Erstes zündeten die Deutschen die Große Synagoge an, nur die ehemalige Mischnaschule ließen sie stehen. Sie trieben die Juden aus ihren Häusern: Man sieht sie auf einem Foto, von deutschen Soldaten eskortiert, sich mit schweren Rucksäcken durch eine Gasse schleppen, vorbei an den heruntergelassenen Rollläden der Musikalienhandlung von Izak Hutterer. Das war im März 1941. Aus den Fenstern der umliegenden Häuser blicken neugierige Gesichter auf sie herab. Er fragt: Was sich die anderen gedacht haben, als sie ihre jüdischen Nachbarn fortgehen sahen. Die Deutschen deportierten sie in nahegelegene Ghettos. Später, auf dem Weg in die Vernichtung, kamen die ehemaligen Bewohner von Oświęcim noch einmal in ihre Stadt zurück, aber sie kamen nicht mehr nach Hause, es war bloß derselbe Ort. Manchmal macht das Leben einen Umweg und
verläuft sich zwischen der Zeit, die war, und den Tagen, die nicht mehr geschehen sind. Und niemand fragt, warum das so ist.
Warum hat Szymszon Kluger, der Letzte, diese Kerbe hinterlassen? Er steht vor seinem Grab, er liest diese kurze Biografie auf Hebräisch und Englisch, ein unverständliches, dreizeiliges Gedicht: Geboren 1925 / Überlebte den Holocaust in deutschen Konzentrationslagern / Gestorben 26. Mai 2000. Was nicht im Stein geschrieben steht: Auch seine Eltern und fünf seiner Geschwister wurden nach Birkenau gebracht, sie haben nicht überlebt.
Warum Szymszon, warum er?
Irgendwo kann man nachlesen: 1961 ist er nach Polen zurückgekehrt, er ist sogar wieder in sein Elternhaus eingezogen, direkt hinter der Synagoge. Nicht weit von hier...
Prosa. Fotografie: Karl Schuber
96 Seiten, geb. mit Schutzumschlag, 20 x 21 cm. - link