"Späte Einsicht, intensives Erinnern: Österreich heute" von Univ. Prof. Dr. Thomas Hellmuth

Univ. Prof. Dr. Thomas Hellmuth schreibt auf Public History Weekly über den Wandel der Erinnerungskultur und -pädagogik in Österreich und geht dabei auch auf die Aktivitäten von _erinnern.at_ ein.
Prof. Hellmuth ist Mitglied des wissenschaftlichen Beirats von _erinnern.at_ und Mitherausgeber von Public History Weekly.

Wer sich mit der Erinnerung an die NS-Zeit und den Holocaust in Österreich beschäftigt, hat immer auch die “Opferthese“ und somit die Geschichtspolitik der Zweiten Republik zu berücksichtigen. Der Staat Österreich galt offiziell als das erste Opfer der nationalsozialistischen Aggressionspolitik, womit die Aufarbeitung der NS-Vergangenheit erschwert wurde. Österreich mag, nicht zuletzt auch wegen zahlreicher rechtsextremer Skandale, als ewig gestrig erscheinen. Dennoch setzen sich mehrere Institutionen – etwa der Lern- und Gedenkort Mauthausen, das erst kürzlich eröffnete Haus der Geschichte Österreich (hdgö) und der Verein “erinnern.at“ – und deren engagierten Mitarbeiter*innen für eine kritische Erinnerungskultur ein.

Der Text erschien ursprünglich am 06.12.2018 auf Deutsch und Englisch auf Public History Weekly: - Link

 

Österreich: Land der Zeitlupe

Die vier Phasen der Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus[1] fanden in Österreich zumeist verspätet statt oder dauerten länger: Die Phase der gerichtlichen Verfolgung (1945-1949/50) erfolgte noch zeitgleich mit der Bundesrepublik Deutschland. Allerdings erstreckte sich die Phase der Vergangenheitspolitik in Österreich gleich bis in die 1980er-Jahre. Die Phase der Vergangenheitsbewältigung setzte überhaupt erst Mitte der 1980er Jahre ein, beginnend mit der Waldheim-Affäre und gefolgt von der Wahl des Rechtspopulisten Jörg Haider, der dem Nationalsozialismus ambivalent gegenüberstand, zum Obmann der FPÖ. Die bis dato kaum aufgearbeitete NS-Vergangenheit störte plötzlich die “Insel der Seligen“ und die “Opferthese“ wurde zunehmend in Frage gestellt. Nun wurde auch die Phase der Vergangenheitsbewahrung eingeleitet, die sich etwa um den langjährigen Streit über das Mahnmal gegen Krieg und Faschismus von Alfred Hrdlicka spiegelte.

 

Jenseits des “moralischen Zeigefingers“

Um die Jahrtausendwende setzte eine neue, eine fünfte Phase ein: die Phase des Erinnerungslernens, die nicht mehr von Betroffenheitspädagogik und vom “moralische Zeigefinger“ geprägt ist, sondern durch historisch-politische Bildung. Die Diskussion, ob überhaupt und auf welche Weise erinnert werden soll, ist einer Diskussion über die adäquate fachdidaktische Fundierung des “Nie wieder“ gewichen.

Gegenwartsorientierung und Lebensweltbezug (Alfred Schütz) und damit auch der Lernende selbst sind dabei zentral. Es geht nicht mehr nur um Faktenwissen über den Nationalsozialismus und den Holocaust, sondern auch um die Emotionen und Bedürfnisse von Schüler*innen, um die Entwicklung demokratischer Verhaltensdispositionen sowie um kritische Reflexion der gegenwärtigen Gesellschaft.[2] So wird die Rolle von Sozialisation und Erziehung, d.h. die Frage der Bedeutung “kollektiver Identitäten“ für die (individuelle) Wahrnehmung der Gegenwart kritisch reflektiert. Dabei ist die Verwendung und (politische) Funktionalisierung von “Geschichte“ aufzudecken sowie der gesellschaftliche Kontext der Lernenden zu berücksichtigen. Das lernende Subjekt wird als “aktives Subjekt“ verstanden, das zur gesellschaftlichen Veränderung beitragen kann. In diesem Zusammenhang sollte auch die Entwicklung alternativer demokratischer Orientierungs- und Handlungsmöglichkeiten und somit auch politische Partizipation gefördert werden.

Methodisch ist ein solches Erinnerungslernen vor allem auf selbsttätiges Lernen ausgerichtet. Inhaltlich konzentriert es sich nicht allein auf die Opfer, sondern auch auf die Täter, setzt die Ereignisse in einem größeren Zusammenhang, individualisiert das Geschehen und filtert Mechanismen von Ausgrenzung und Verfolgung heraus. Dabei müssen aber auch die Unterschiede zwischen der damaligen und heutigen Gesellschaft herausgearbeitet werden, um simple Vergleiche bzw. unzulässige Gleichsetzungen mit gegenwärtigen Phänomenen zu vermeiden.

Die oben erwähnten Institutionen orientieren sich an diesem Konzept historisch-politischen Lernens, wobei deren Ziele, Aufgaben und Methoden freilich divergieren. Im Folgenden soll der Verein erinnern.at, der sowohl schulische als auch außerschulische Bildungskonzepte bietet, als Beispiel für die engagierte Erinnerungsarbeit hervorgehoben werden.

 

Vielfalt als Prinzip: erinnern.at

Im Jahr 2000 startete das österreichische Bildungsministerium ein Projekt, das Seminare für österreichische Lehrer*innen an der Gedenkstätte Yad Vashem ermöglichte. Um diese Seminare etablierte sich schließlich 2009 ein Verein, der bis heute im Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft und Forschung (BMBWF) angesiedelt ist.

Die Arbeit von erinnern.at ist bemerkenswert vielfältig: Auf regionaler Ebene organisieren Mitarbeiter*innen in Kooperation mit anderen Institutionen, u.a. den Pädagogischen Hochschulen oder dem Jüdischen Museum in Wien, Fortbildungsveranstaltungen. Ferner entwickeln sie Lernmaterialien und berücksichtigen dabei den jeweiligen regionalen Kontext. Hervorzuheben ist hier etwa die Lernwebsite www.alte-neue-heimat.at, auf der Zeitzeug*innen-Interviews mit Tiroler Juden und Jüdinnen und entsprechende Unterrichtsmaterialien abrufbar sind, sowie die für Jugendliche gestaltete Sachbuchreihe „Nationalsozialismus in den Bundesländern“. Auf nationaler Ebene finden alljährlich so genannte “Zentrale Seminare“ mit jeweils eigenen Schwerpunkten statt. Zudem werden “Zeitzeug*innen-Seminare“ angeboten sowie Zeitzeug*innen an Schulen vermittelt.

International sind zwei Hochschullehrgänge in Oberösterreich und Salzburg zu erwähnen, die auch zweiwöchigen Seminare umfassen, die in Israel in Kooperation mit Yad Vashem stattfinden. Mit dem Projekt “IWitness – Video-Interviews mit Zeitzeug*innen“ kooperiert erinnern.at zudem mit dem “Shoah Foundation Institute for Visual History and Education der University of Southern California“ und bietet auf einer multimedialen Lernwebsite die erste deutschsprachige Videosammlung mit Zeitzeug*innen an.

Das Beispiel erinnern.at zeigt, dass in Österreich die Erinnerung an den Nationalsozialismus und die Shoa nicht nur ambivalent ist, sondern auch durchaus bemerkenswert sein kann: Jenen, die noch immer in Liederbüchern davon singen “Gas“ zu geben, um noch “die siebte Million zu schaffen“,[3] tritt eine demokratische Erinnerungskultur gegenüber, die das “Nie Wieder“ auf eine fundierte didaktische Grundlage stellt.

 

Der Text von Univ. Prof. Dr. Thomas Hellmuth erschien ursprünglich am 06.12.2018 auf Public History Weekly: - Link

 

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Literaturhinweise

  • Gautschi, Peter, Béatrice Ziegler, and Meik Zülsdorf-Kersting (Hrsg.). Shoa und Schule. Lehren und Lernen im 21. Jahrhundert. Zürich: Chronos 2013.
  • Matthes, Eva, and Elisabeth Meilhammer (eds.). Holocaust Education in the 21th Century. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, 2015.
  • Völkel, Bärbel. Stolpern ist nicht schlimm. Materialien zur Holocaust-Education. Schwalbach/Ts.: Wochenschau Verlag, 2015.

Webressourcen

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[1] Norbert Frei, 1945 und Wir: Das Dritte Reich im Bewusstsein der Deutschen(München: dtv 2005), 26; Aleida Assmann, “Die Erinnerung an den Holocaust: Vergangenheit und Zukunft,” in Handbuch Nationalsozialismus und Holocaust, eds. Hanns-Fred Rathenow, Birgit Wenzel and Norbert Weber (Schwalbach/Ts.: Wochenschau Verlag, 2002), 71.
[2] Jakob Benecke, “‘Erziehung nach Auschwitz’: Theoretische Klärung und Analyse ihrer schulischen Realisierungsmöglichkeiten,” in Holocaust Education in the 21th Century, eds. Eva Matthes and Elisabeth Meilhammer (Bad Heilbrunn: Klinkhardt, 2015), 196; Barbara Fenner, “‘Jetzt kapier’ ich, was Geschichte ist, da geht’s ja um mich.’ Didaktische Möglichkeiten, Schülerinnen und Schülern den Holocaust nahezubringen,” in Holocaust Education in the 21th Century, eds. Eva Matthes and Elisabeth Meilhammer (Bad Heilbrunn: Klinkhardt, 2015), 199-213.
[3] Während des niederösterreichischen Landtagswahlkampfes Anfang 2017 tauchte ein Liederbuch der Wiener Neustädter Burschenschaft “Germania”, der der FPÖ-Spitzenkandidat angehörte, mit antisemitischen Texten auf. Darin fand sich u.a. eine antisemitische Textstelle: „Da trat in ihre Mitte der Jude Ben Gurion: “’Gebt Gas, ihr alten Germanen, wir schaffen die siebte Million.‘ “ Siehe dazu u.a. https://www.sn.at/politik/innenpolitik/antisemitisches-lied-fpoe-kandidat-landbauer-unter-druck-23345584 (letzter Zugriff 13. November 2018).