Schulbuchkritik
Schulbücher haben einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf den Geschichtsunterricht. Die darin angebotenen Texte und Bilder finden neben vielem anderen aus den Massenmedien Eingang ins Geschichtsbewusstsein der Schüler/innen. Ein zeitgemäßer Geschichtsunterricht zu NS-Zeit und zu Holocaust stellen an das Schulbuch bedeutende Anforderungen, von denen hier nur einige kursorisch angeführt seien:
- Es sollen nicht die Perspektive, die Sprache und die Quellen der Täter dominieren, sondern die Opfer müssen Gesichter bekommen und eine Geschichte.
- Es dürfen die zu Opfern gemachten Menschen nicht nur in ihrer Degradierung bzw. als Leichen gezeigt werden, sondern sie sind als menschliche Wesen mit Respekt zu behandeln, die ein Leben davor hatten und - wenn sie überlebten - auch ein Leben danach. Wie ging die Nachkriegsgesellschaft mit ihnen, ihrem Leiden und ihren Ansprüchen um?
- Die Täter sind keine fremden Monster, sondern sie sind einerseits Individuen mit bestimmtem Handlungsspielraum, andererseits Teile eines politischen Systems. Auch ist von Bedeutung, ob und wie sie der Gerechtigkeit zugeführt wurden.
- Die Bilddokumente sind als Quellen ebenso ernst zu nehmen wie Textdokumente.
- Im gegenwärtigen gesellschaftlichen Diskurs kommt den Verbrechen der NS-Zeit eine bedeutende Rolle zu ("Aufarbeitung", Bezugnahme zur Durchsetzung aktueller Interessen, massenkulturelle und künstlerische Bearbeitungen...).
Der faktizistisch-unkritische Nachvollzug der NS-„Erfolgs“geschichte - eine unterschätzte Gefahr (Schulbuchkritik und Gegenkonzept)
Auszug aus: Peter Schulz-Hageleit, NS-Kindheit und Geschichtsbewusstsein II
Text - hier
In einer schief und einseitig platzierten Auffassung von geschichtlichem Wissen begnügt sich der Geschichtsunterricht häufig, allzu häufig, mit dem bloßen Nachvollzug der Macht- und Ereignisgeschichte, wodurch das im Entstehen begriffene historisch-kritische Denken nicht angeregt, sondern autoritär kanalisiert wird. Nehmen wir als Beispiel das Thema „der Aufstieg des Nationalsozialismus“. Schon das Wort „Aufstieg“ suggeriert Erfolg, Glanz, Stärke und Befriedigung, die niemand missen will und ganz missen kann. Alle wollen „aufsteigen“, niemand möchte „absteigen“ oder looser sein. Wenn dieser„objektive“ Aufstieg dann noch mit subjektiven Aufforderungen zum identifikatorischen Nachvollzug des Vorgangs versehen wird („Wie haben die Nazis das geschafft?“), dann mutiert der Unterricht zur unkritischen Wiederholung nazistisch-wahnhafter Selbstrechtfertigungen.
Es genügt also nicht, die Nürnberger Gesetze in ihrem ideologischen Selbstverständnis „als solche“ wiederholen zu lassen („Nenne die wichtigsten Bestimmungen...“), ohne dass ein kritisches Bewusstsein für den Unrechtscharakter und die Sozialpathologie dieser Bestimmungen mental gegenwärtig ist. Es führt in die Irre, SchülerInnen zu einer sozusagen eindimensionalen „empathischen“ Einfühlung in Jugendliche der damaligen Zeit aufzufordern und ihnen zum Beispiel die Hausaufgabe zu stellen: „Nenne Gründe, warum viele Jugendliche in die HJ eintraten.“
Aber das ist doch „die“ Geschichte, wird mir entgegen gehalten, wenn ich derartige Unterrichtsverläufe (etwa bei Hospitationen während des Praktikums) beanstande. Wir müssen Tatsachen sprechen lassen und dürfen die Realgeschichte nicht aus heutiger Sicht moralisierend verfälschen. In der Tat: Ein aufgesetztes Moralisieren ohne Wissensgrundlage wäre ebenso verfehlt wie Tatsachenfetischismus auf dem Trampelpfad der Gewaltgeschichte. Doch das wird hier ja auch nicht empfohlen. Empfohlen wird vielmehr ein Ineinandergreifen von kritischem Denken und realgeschichtlichem Wissen, das unterrichtspraktisch erreicht werden kann, wenn der katastrophale „Aufstieg“ von vornherein in die kritische Perspektive von Menschen gestellt wird, die damals schon besorgt und skeptisch waren.
Zeugnisse dieser Art gibt es inzwischen zum Glück zu Hauf. Leider wird der unkritische Nachvollzug der mörderischen NS-Geschichte durch anerkannte Publikationen und Medien nicht zurückgewiesen, sondern im Gegenteil voran getrieben, möglicherweise ohne böse Absichten, aber das kann didaktisch nicht „entschuldigend“ ins Feld geführt werden. In einem Schulbuch finden sich beispielsweise folgende Überschrift und Unterüberschrift:
„Rassenwahn und Führerprinzip - Womit rechtfertigen die Nazis ihre Politik“.
Ebenda sollen die SchülerInnen sich mit der Frage beschäftigen: „Warum errichten die Nazis Konzentrationslager?“ Wenn die SchülerInnen die Fragen so beantworten, wie sie hier gestellt sind, werden sie sozusagen genötigt, in das Denken der Nazis einzusteigen, und das ist, höflich formuliert, ein mehr als riskantes Verfahren. Empirische Untersuchungen vor Ort bestätigen - leider - die hier präsentierten Befunde. Irit Wyrobnik hat eine 4. Grundschulklasse beobachtet und festgehalten, wie das Thema Holocaust vermittelt wurde: das Ergebnis ist niederschmetternd. Bei der Klärung der Frage, was NSDAP bedeute und wie diese Partei argumentiere, erscheint an der Tafel im blinden Nachvollzug der nazistischen Geschichtsideologie „Arbeitslosigkeit und Armut, die Juden haben Schuld“. Inwiefern das eine Beispiel repräsentativ für weitere Strukturen ist, muss hier offen bleiben. Als Symptom für unterschwellige Missstände und grobe Gefahren verdient der Befund so oder so Beachtung und geschichtsbewusst-wirksame Gegenkonzepte.
Das Risiko des unkritisch-faktzistischen Nachvollzuges der NS-Ideologie auf der einen Seite und der damit verbunden Macht- und Gewaltgeschichte auf der anderen Seite lässt sich auf verschiedene Weise minimieren, u.a. durch
- a) den Einbezug der kritischen Perspektive von Anfang an (Stichwort „Filterfiguren“, vgl. oben), durch
- b) den chronologischen Vorgriff auf die grauenhaften Folgen der NS- Ideologie, durch
- c) psychohistorisches Insistieren auf dem Wahnhaften („Rassenwahn“), das in je eigener Form auch in anderen Bereichen zu beklagen ist (Wahnsinn des Wettrüstens, Massenhysterien u.ä.), durch
- e) die Aktivierung von Empathie und (realhistorischer) Fantasie (z.B. Welche Folge hätten Rassenwahn und Führerprinzip hier in unserer Schulklasse?), durch
- f) Erinnerung an die Grundrechte der Weimarer Verfassung, die ja nach wie vor Gültigkeit hatte,
um nur einige Ansätze anzudeuten.
Unüberlegt - zumindest in sprachlicher Hinsicht - ist auch eine von respektablen Rednern vertretene Auffassung, der zufolge der Holocaust zur deutschen Identität gehöre. Ich muss so etwas auch und gerade als Täterkind entschieden zurückweisen. Der Holocaust gehört weder zur Identität „der Deutschen“ noch zu meiner individuellen Identität. Gewiss: Er gehört zur deutschen Geschichte und zu meiner familiären Vorgeschichte. Er kommt beruflich als Bemühen um Wiedergutmachung zur Geltung, er wird mich
persönlich als Schuld und als Schuldgefühl bis an mein Lebensende beunruhigen und verpflichtet uns alle, vor allem die nichtjüdischen Deutschen, für die Zukunft. Viele weitere Verknüpfungen, in denen der Massenmord an den Juden eine maßgebliche Rolle spielt, könnten angefügt werden, u.a. die Dimension des Europäischen, die neuerdings verstärkt thematisiert wird. Ein Ineinanderschieben von Judenmord und deutscher Identität ergibt sich auf diesen Wegen gleichwohl nicht, und das ist gut so.
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