Kein Recht auf Wiedergutmachung. Kontinuitäten in Verfolgung und Diskriminierung Homosexueller nach 1945

Elisa Heinrich ist Historikerin mit einem Schwerpunkt auf Geschlechter- und Sexualitätsgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert, die Geschichte sozialer Bewegungen sowie die (Erinnerungs-)Geschichte des Nationalsozialismus. Auf dem Zentralen Seminar von ERINNERN:AT 2023 hielt sie einen Einführungsvortrag zum Seminarthema „NS-Verfolgung Homosexueller“ und besprach dabei den langen Kampf um Anerkennung und Erinnerung in Österreich nach Kriegsende. Im folgenden Beitrag analysiert sie die Kontinuitäten in Verfolgung und Diskriminierung Homosexueller nach 1945. Der Artikel erschien 2023 im Gaismair-Jahrbuch. Er steht außerdem als PDF zum Download bereit.

Nach der Befreiung Österreichs 1945 bestand eine klare Kontinuität in der Strafverfolgung von Homosexuellen, der §129 behielt seine Gültigkeit. Die mit dem Vorwurf der Homosexualität Verfolgten wurden nicht als Opfer des Nationalsozialismus anerkannt. Haftentlassene schwiegen über den Grund ihrer Strafhaft, die aus den Konzentrationslagern zurückgekehrten überlebenden männlichen „Rosa-Winkel-Häftlinge“ sahen sich der gleichen gesellschaftlichen Ächtung ausgesetzt wie zuvor. Noch jahrzehntelang setzte die Wiener Kriminalpolizei ihre Arbeit fort und verfolgte und verhaftete Männer und Frauen wegen „Unzucht wider die Natur“. Mit der „Kleinen Strafrechtsreform“ 1971 wurde zwar das „Totalverbot“ aufgehoben, es wurden aber vier neue Tatbestände eingeführt (§ 209, § 210, § 220, § 221), die Homosexuelle weiterhin juristisch diskriminierten. Nur schrittweise wurden diese zwischen den Jahren 1989 und 2002 aufgehoben. Der Beitrag geht den Kontinuitäten und langsamen Veränderungen nach 1945 nach und zeigt, welche Auswirkungen die fehlende Anerkennung der NS-Opfer und die kontinuierlichen Verfolgungs- und Diskriminierungsmaßnahmen für die Betroffenen hatten. Die Kapitulation des NS-Regimes im Mai 1945 galt lange Zeit als Stunde Null: als Neubeginn, an dem alle Verbindungen zu den Denkmustern der NS-Zeit gekappt werden und ein vorbehaltloses Aufarbeiten beginnen sollte. Dass es in zahlreichen gesellschaftlichen und politischen Bereichen keinen Neubeginn, sondern vielfältige Kontinuitäten gab – etwa was die politische und professionelle Reintegration ehemaliger Nationalsozialisten oder das Negieren jeglicher Mitverantwortung von Österreicher:innen an NS-Verbrechen betrifft –, hat die Rede von der Stunde Null längst als Mythos entlarvt. Im Fall homosexueller Männer und Frauen, die vor, während und nach der NS-Zeit strafrechtlich verfolgt wurden, trifft dies in besonderem Maße zu. Weder änderte sich nach 1945 die Rechtslage noch wurde das diesen Personen zwischen 1938 und 1945 zugefügte Unrecht als solches anerkannt.

Kontinuität der Verfolgung, fehlende Wiedergutmachung

„Unzucht wider die Natur“, wie es im Strafgesetzbuch unter § 129 Ib hieß, und worunter sexuelle Handlungen mit Tieren (!) und mit Personen gleichen Geschlechts fielen, wurde in Österreich bereits seit 1852 strafrechtlich verfolgt. Andreas Brunner geht darauf ausführlich in seinem Beitrag dieses Gaismair-Jahrbuchs ein. Während in zahlreichen Ländern Europas ähnliche Paragrafen existierten, die sich allerdings ausschließlich auf sexuelle Handlungen zwischen Männern bezogen, stand in Österreich sowohl geschlechtlicher Verkehr zwischen Männern als auch jener zwischen Frauen unter Strafe. § 129 Ib blieb auch nach dem sogenannten „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich aufrecht, obwohl der entsprechende, in Deutschland geltende § 175 RStGB nur männliche „Unzucht“ bestrafte. Damit waren während der NS-Zeit auf dem Gebiet Österreichs homosexuelle Männer und Frauen Verfolgung ausgesetzt, wenngleich Frauen weniger intensiv bzw. explizit verfolgt wurden. Beispielhaft dafür steht der Umstand, dass homosexuelle Frauen im Gegensatz zu homosexuellen Männern in Konzentrationslagern keiner eigenen Haftkategorie zugeordnet wurden. Dennoch muss eine Geschichte der Verfolgung Homosexueller auf österreichischem Gebiet in und nach der NS-Zeit immer homosexuelle Männer und Frauen gleichermaßen im Blick haben.

Die Lage homosexueller Männer und Frauen und insbesondere jener Rosa- Winkel-Häftlinge, die das Konzentrationslager überlebt hatten, war nun mehrfach schwierig. Zwar wurden die Rechtsprechung und das Strafmaß von § 129 Ib nach 1945 auf die Zeit vor dem „Anschluss“ angepasst, dennoch hatte die Tatsache, dass gleichgeschlechtliche sexuelle Handlungen weiterhin strafbar waren, weitreichende Folgen.

Die während der NS-Zeit Verurteilten galten auch nach Kriegsende nicht nur als vorbestraft, es konnte auch auf die Verbüßung von Reststrafen aus den NSUrteilen entschieden werden. Wie Andreas Brunner und Hannes Sulzenbacher in einem Aufsatz von 2020 anhand zweier eindrücklicher Beispielfälle zeigen, bestanden „in der Nachkriegszeit keine Zweifel an der Rechtmäßigkeit der in der NS-Zeit ausgesprochenen Urteile nach § 129 Ib“, die Gerichte beriefen sich weiterhin auf nationalsozialistische Gesetze und Verordnungen.[1] Und nicht nur das: Die Zahl der Verurteilungen nach § 129 Ib stieg bis zum Jahr 1955 sogar kontinuierlich an.[2] Weitere unmittelbare Folgen waren die Aberkennung akademischer Grade, der Ausschluss aus berufsständischen Kammern sowie Berufsverbote.

Darüber hinaus hatten die betroffenen Personen kein Recht auf eine finanzielle Entschädigung der Verfolgung während der NS-Zeit durch die Republik Österreich. Das bereits 1945 in Kraft getretene Opferfürsorgegesetz berücksichtigte die Gruppe der wegen Homosexualität verfolgten Personen nicht. Während ab 1947 der Kreis der Anspruchsberechtigten langsam erweitert wurde, blieb es wegen Homosexualität Verfolgten bis 2005 verwehrt, Ansprüche geltend zu machen. Nach Ende des NS-Regimes gab es also für homosexuelle NS-Opfer lange Zeit keine Grundlage und kein Instrument, eine Entschädigung für das erlittene Unrecht einzufordern. Zusätzlich kam eine derartige Forderung einer Selbstbezichtigung nach geltender Rechtslage gleich. Besonders bitter war darüber hinaus, dass es für ehemalige Rosa-Winkel-Häftlinge keine Möglichkeit gab, ihre KZ-Haft als Pensionsbeitragszeit anrechnen zu lassen.

Wie der Historiker Wolfgang Benz festhält, begriff „[d]ie Nachkriegsgesellschaft (…) die Sanktionen des NS-Staats, da sie in einer langen Tradition standen und nach 1945 im Prinzip fortgesetzt wurden, nicht als Spezifikum nationalsozialistischer Ideologie und Politik und verweigerte die Anerkennung und Entschädigung des Unrechts“.[3]

Die Abwertung und Diskriminierung, die Homosexuelle im Nachkriegsösterreich erfuhren, lässt sich auch an der Darstellung von Homosexualität in den Printmedien verdeutlichen: So existierte bis in die 1960er-Jahre praktisch keine seriöse Berichterstattung, stattdessen wurde Homosexualität im Kontext von „Sittenverfall“ und in Verknüpfung mit Kriminalität thematisiert.

 

Der lange Weg zur Strafrechtsreform

Trotz der omnipräsenten gesellschaftlichen Abwertung von Homosexualität gab es ab den 1950er-Jahren einzelne Akteure, die sich als Kritiker des § 129 Ib an die Öffentlichkeit wandten und dabei auch die eigene Strafverfolgung riskierten. Einer der Prominentesten war der Schriftsteller und Übersetzer Erich Lifka. Zudem existierten in dieser Zeit bereits privat organisierte Treffpunkte in Wien, deren Aufsuchen zwar risikoreich war, dennoch aber Rückzugsmöglichkeit und Vergemeinschaftung unter Gleichgesinnten ermöglichte.

Eine für den Kampf um Homosexuellenrechte zentrale Organisation im Nachkriegsösterreich stellt die Österreichische Liga für Menschenrechte dar, die bereits wenige Jahre nach Ende der NS-Herrschaft und drei Jahrzehnte bevor in Österreich erste politische Initiativen der Schwulenbewegung sowie der Frauen- und Lesbenbewegung entstanden, gegen die Strafverfolgung von Homosexuellen auftrat. Die Liga war auch zentrale Triebfeder für den ab Mitte der 1950er-Jahre beginnenden Prozess einer Reform der Strafbarkeit von Homosexualität.[4] So wurde 1954 eine Strafrechtskommission eingesetzt, die das gesamte Strafrecht reformieren sollte. Obwohl die Mehrheit der Kommissionsmitglieder 1957 die Empfehlung gab, die Strafbarkeit gleichgeschlechtlicher Sexualakte unter volljährigen Personen abzuschaffen, sollte es bis 1971 und bis zu einer SPÖ-Alleinregierung dauern, bis dies auch tatsächlich umgesetzt wurde. Kurz davor hatte es noch einmal anders ausgesehen: So hatte die ÖVP, die ab 1966 allein regierte, noch 1968 für „Unzucht mit einer Person des gleichen Geschlechts“ bis zu drei Jahre Freiheitsstrafe vorgesehen.[5] Nach ihrem Wahlsieg reformierte die SPÖ ab 1970 unter Justizminister Christian Broda das Sexualstrafrecht sehr rasch. Allerdings erfolgte mit der sogenannten Kleinen Strafrechtsreform 1971 keine völlige Entkriminalisierung homosexueller Handlungen: So wurde das Totalverbot zwar abgeschafft, allerdings durch vier andere Paragrafen ersetzt. Diese stellten nun gleichgeschlecht- liche sexuelle Handlungen Erwachsener mit jungen Männern unter 18 Jahren unter Strafe (§ 209) – damit wurde für Sexualkontakte zwischen Männern ein höheres Schutzalter als für heterosexuelle oder lesbische Kontakte festgelegt. Ebenso wurde schwule Prostitution verboten (§ 210). Darüber hinaus wurden die „Werbung für Unzucht mit Personen des gleichen Geschlechtes oder mit Tieren“ (§ 220) sowie „Verbindungen zur Begünstigung gleichgeschlechtlicher Unzucht“ mit Strafbarkeit belegt (§ 221).

Dass die Abschaffung von § 129 Ib mit vier neuen Paragrafen flankiert wurde, bildet das gesellschaftliche Klima ab, in dem Homosexualität zwischen Erwachsenen mittlerweile zwar geduldet, zugleich aber weiterhin als ein von der Norm abweichendes Phänomen klassifiziert wurde. Dieser Einstellung folgend musste Homosexualität in vielerlei Hinsicht reguliert und kontrolliert werden.

Kampf um Sichtbarkeit

Wenige Jahre nach der Kleinen Strafrechtsreform kamen in Österreich erste politische Zusammenschlüsse von Schwulen und Lesben zustande: In Wien bildete sich mit der Gruppe „Coming Out“, die etwa zwischen 1976 und 1978/79 bestand, die wahrscheinlich erste politische Gruppe der Schwulen- und Lesbenbewegung Österreichs. Zu Pfingsten 1977 fand das erste „Schwule Treffen“, im Juni 1980 das erste österreichische Lesbentreffen statt. Lesbische Frauen begannen sich seit der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre sowohl in Frauengruppen als auch in schwul/lesbischen Bewegungen zu organisieren: Hierfür stehen in Wien die Gründung des „Frauencafés“ und der Buchhandlung „Frauenzimmer“ 1977 oder die von Lesben und Schwulen gemeinsam organisierte so genannte „Instandbesetzung“ der „Rosa Lila Villa“ 1982. Zwei Jahre zuvor war die „Homosexuellen Initiative“ (HOSI) Wien gegründet worden, in der sich seit 1981 auch lesbische Frauen engagierten.

Nachdem der Aktivist Wolfgang Förster in der Diskussionssendung Club 2 am 25. September 1979 die Gründung eines Homosexuellen-Vereins angekündigt hatte, hatten sich ÖVP und FPÖ in einer parlamentarischen Anfrage an Justizminister Broda gewandt, da der Verein gegen den Tatbestand des § 221 verstoße. Die Gründung der HOSI wurde allerdings nicht untersagt, da Broda die Position vertrat, der Verein sei nicht dazu geeignet, öffentliches Ärgernis zu erregen und könne außerdem eine Einstellungsänderung in der Öffentlichkeit herbeiführen.[6] In Tirol meldete Michael Halhuber im Dezember 1983 die HOSI als Verein an, die Genehmigung der Sicherheitsdirektion erfolgte am 1. Februar 1984. Ein Jahr später richtete sie mit finanzieller Unterstützung des Landes eine telefonische Beratungsstelle ein.

Aufgrund der anhaltenden strafrechtlichen Verfolgung wurden bis in die 1970er-Jahre kaum Zeugnisse von Personen öffentlich, die im Nationalsozialismus aufgrund von Homosexualität verfolgt worden waren. Das 1972 unter dem Pseudonym Heinz Heger veröffentlichte Buch „Die Männer mit dem Rosa Winkel“, das die Erlebnisse des ehemaligen Rosa-Winkel-Häftlings Josef Kohout nachzeichnet, war die erste umfassende Dokumentation dieser Art. Der 1915 in Wien geborene Josef Kohout war im März 1939 von der Gestapo verhaftet und für mehrere Monate in einem Wiener Gefängnis inhaftiert worden. Nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis wurde er in Schutzhaft genommen und in die Konzentrationslager Flossenbürg und Sachsenhausen deportiert. Der Historiker Erik Jensen hält fest, dass die Veröffentlichung der Memoiren Kohouts Anfang der 1970er-Jahre den Beginn einer größeren kollektiven Erinnerung darstellt. Die sich formierende Homosexuellenbewegung bekam damit einen Rahmen für die Auseinandersetzung mit der eigenen NS-Verfolgung.[7] In diesem Zusammenhang brachten dann auch erstmals politische Gruppen Forderungen nach Entschädigung, nach offizieller (symbolischer) Anerkennung als Opfergruppe und nach Gedenkorten vor. Die HOSI versuchte seit Beginn der 1980er-Jahre im Rahmen des Opferfürsorgegesetzes Entschädigungen für Personen zu erwirken, die als homosexuell verfolgt worden waren. Die Organisation begleitete in den 1980erund 1990er-Jahren mehrere Betroffene beim Versuch, ihre Ansprüche durchzusetzen und intervenierte mit Protestkampagnen auf politischer Ebene. Das sogenannte „Bedenkjahr“ 1988, in dem Österreichs „Anschluss“ an das Deutsche Reich 1938 erinnert wurde, nutzten die HOSI und andere Gruppen für eine Reihe von Aktionen: So ließ die HOSI Wien auf Werbeflächen in Wiener Straßenbahnen das Sujet eines auf dem Kopf stehenden Winkels mit der Aufschrift „1938 TOTGESCHLAGEN TOTGESCHWIEGEN 1988“ anbringen. Um auf die nicht erfolgte Rehabilitierung von homosexuellen NS-Opfern hinzuweisen, wurden dreieckige, rosa glacierte Punschtorten an Zeitungsredaktionen und Politiker:innen versendet. Auch versuchte die HOSI, sich mit den drei politischen Opferverbänden – dem Bund sozialdemokratischer Freiheitskämpfer und Opfer des Faschismus, der ÖVP-Kameradschaft der politisch Verfolgten sowie dem der KPÖ nahestehenden KZ-Verband – zu vernetzen, um Unterstützung bei der Forderung nach einer Erweiterung des Opferfürsorgegesetzes auf Homosexuelle zu erhalten. Die Opferverbände sahen sich allerdings für die Anliegen verfolgter Homosexueller nicht zuständig.[8] Bei der Befreiungsfeier im Mai 1990 trat die HOSI Wien schließlich mit einem Transparent auf, das den damaligen SPÖ-Sozialminister Walter Geppert dazu aufforderte, homosexuelle NS-Opfer endlich zu entschädigen. Der Spruch „Minister Geppert, sei kein Nazischwein. Wiedergutmachung jetzt“ rief heftige Reaktionen hervor.[9]

 

Späte Anerkennung und Entschädigung

Mit dem Übergang in die 1990er-Jahre lassen sich langsam Veränderungen im staatlichen Umgang mit Lesben und Schwulen erkennen. 1989 wurde der Tatbestand der „gewerbsmäßigen gleichgeschlechtlichen Unzucht“ aufgehoben, 1997 wurden schließlich das Verbindungs- und auch das Werbeverbot abgeschafft. § 209, der das Schutzalter für männliche Homosexuelle auf 18 Jahre festlegte, sollte allerdings erst 2002 aufgehoben werden.

Den Beginn der langsamen symbolischen wie materiellen Anerkennung der homosexuellen Opfergruppe in der politischen Öffentlichkeit stellt die erste offizielle Erwähnung Homosexueller als NS-Opfer durch Bundeskanzler Franz Vranitzky in seiner Rede vor dem Nationalrat am 8. Juli 1991 dar.[10] Vranitzky widersprach in dieser Rede im Übrigen auch erstmals der These von Österreich als erstem Opfer des Nationalsozialismus.

Erst ab dem Jahr 1993 kam schließlich auch Bewegung in die Entschädigungsdebatte: Protagonist:innen aus SPÖ und ÖVP forderten die Schaffung eines „Nationalfonds für Opfer des Nationalsozialismus“, der auch bisher unberücksichtigt gebliebene Opfergruppen einschließen sollte. Am 30. Juni 1995 schließlich wurde das Nationalfondsgesetz verabschiedet, das explizit auch wegen ihrer sexuellen Orientierung verfolgte Personen einbezog und für Antragsteller:innen eine „Gestezahlung“ in Höhe von etwa 5.000 Euro für erlittenes Unrecht durch das NS-Regime vorsah.[11] Widersprüchlich mutet diese Einführung des Nationalfonds an, wenn man bedenkt, dass bei der zeitgleich stattfindenden Novellierung des Opferfürsorgegesetzes homosexuelle Verfolgte nach wie vor nicht anerkannt wurden – der Nationalrat lehnte einen entsprechenden Antrag von Grünen und Liberalem Forum ab. Erst im Jahr 2005 konnte sich das Parlament zur Anerkennung der Gruppe im Rahmen des Opferfürsorgegesetzes durchringen. Eine langwierige Auseinandersetzung um Entschädigung und Wiedergutmachung fand damit zu einer Zeit ihren Schlusspunkt, als viele der Opfer nicht mehr am Leben waren.

Auch im Kontext der Befreiungsfeiern in der Gedenkstätte Mauthausen, die in den 1980er-Jahren noch Schauplatz von Auseinandersetzungen gewesen waren, wurde von staatlicher Seite nun Bewusstsein und Anerkennung für diese Opfergruppe signalisiert. 1998 nahmen etwa Heinz Fischer, damals Nationalratspräsident, und im Jahr 2000 Barbara Prammer, ebenfalls als Nationalratspräsidentin, an Kranzniederlegungen vor dem seit 1984 bestehenden Gedenkstein teil.

 

Fazit

Wie dieser Beitrag veranschaulicht, hatte die lange andauernde Verfolgung und Diskriminierung homosexueller Männer und Frauen sowie das fehlende gesellschaftliche Bewusstsein für die Gruppe homosexueller NS-Opfer vielfältige Auswirkungen. Nicht zuletzt war es bis in die 1990er-Jahre und teilweise darüber hinaus praktisch unmöglich, an Universitäten oder anderen Forschungseinrichtungen zu diesen Themen zu forschen, ohne die eigene wissenschaftliche Reputation zu gefährden. Stattdessen wurden die erste Forschung und Aufarbeitung in politisch-aktivistischen Zusammenhängen betrieben. Ebenso war es lange undenkbar, die Verfolgung und Diskriminierung von Lesben und Schwulen im Nationalsozialismus und darüber hinaus in schulische Lehrpläne zu integrieren. Dass sich ERINNERN:AT und das Gaismair Jahrbuch 2024 ausführlich dem Thema der NS-Verfolgung Homosexueller widmen, ist ein wichtiger Schritt.

 

Literaturhinweise

Birke, Roman/Barbara Kraml: Gleichzeitigkeit von Inklusion und Exklusion: Homosexuelle zwischen Verfolgung und Normalisierung in Österreich 1971, in: zeitgeschichte 43 (2016) 2, S. 85–100.

Brunner, Andreas/Ines Rieder/Nadja Schefzig/Hannes Sulzenbacher/Niko Wahl: geheimsache: leben. Schwule und Lesben im Wien des 20. Jahrhunderts, Katalog zur gleichnamigen Ausstellung, 26.10.2005 – 8.1.2006, Neustifthalle Wien, Wien 2005.

Heinrich, Elisa: Marginalisierte Erinnerung. Auseinandersetzungen um homosexuelle NS-Opfer im Nachkriegsösterreich, in: zeitgeschichte 43 (2016) 2, 101–115.

Wahl, Niko: Verfolgung und Vermögensentzug Homosexueller auf dem Gebiet Österreichs während der NS-Zeit. Bemühungen um Restitution, Entschädigung und Pensionen in der Zweiten Republik, Wien–München 2004.

 

Anmerkungen

[1] Hannes Sulzenbacher/Andreas Brunner: „Wiedergutmachung kein Thema“. Zur Geschichte der Homosexuellenverfolgung in Österreich nach 1945, in: Einsicht 2020. Bulletin des Fritz Bauer Instituts, Frankfurt 2020, S. 34–42, hier S. 38.

[2] Hans-Peter Weingand: Homosexualität und Kriminalstatistik in Österreich, in: Invertito – Jahrbuch für die Geschichte der Homosexualitäten 13 (2011), S. 40–87, hier S. 61.

[3] Wolfgang Benz: Homosexuelle und „Gemeinschaftsfremde“. Zur Diskriminierung von Opfergruppen nach der nationalsozialistischen Verfolgung, in: Verfolgung als Gruppenschicksal, Dachauer Hefte 14 (November 1998), S. 3–16, hier S. 5–6.

[4] Weingand: Homosexualität und Kriminalstatistik, S. 40–87.

[5] Siehe die Regierungsvorlage für § 228: 706 der Beilagen zu den stenographischen Protokollen des

Nationalrats XI. GP., URL: https://www.parlament.gv.at/PAKT/VHG/XI/I/I_00706/index.shtml (Zugriff 18.5.2023).

[6] Stenographisches Protokoll der 10. Sitzung des Nationalrates, 24. 10. 1979, XV. Gesetzgebungsperiode. Siehe auch Wolfgang Förster: Nach dem Club, in: LAMBDA Nachrichten 1 (1979) 1, S. 2–3.

[7] Erik N. Jensen: The Pink Triangle and Political Consciousness. Gays, Lesbians, and the Memory of Nazi Persecution, in: Dagmar Herzog (Hg.): Sexuality and German Fascism, New York/Oxford 2005, S. 319–349, hier S. 325.

[8] Kurt Krickler: Entschädigung: Bis heute kein Rechtsanspruch, in: Aus dem Leben, S. 53–61, hier S. 55–56.

[9] Ebd., S. 57.

[10] Stenographisches Protokoll der 35. Sitzung des Nationalrates, 8. 7. 1991, XVIII. Gesetzgebungsperiode.

[11] BGBl. 432/1995, URL: http://www.ris.bka.gv.at/Dokumente/BgblPdf/1995_432_0/1995_432_0.pdf (Zugriff 20.5.2023).