Roma: Die größte europäische Minderheit
Zahlen und Siedlungszentren
Die Anzahl der in Europa lebenden Roma und Sinti wird allgemein auf rund 8 Millionen geschätzt. Ihre verschiedenen Sprachen weichen zum Teil beträchtlich voneinander ab. Obwohl all diese Sprachen einen gemeinsamen indischen Ursprung haben – mit unterschiedlich vielen Lehnwörtern aus dem Persischen, Armenischen und Griechischen – haben sie sich, wie alle anderen großen Sprachgruppen auch, unterschiedlich entwickelt. In Nord- und Westeuropa werden verschiedene Sinti-Sprachen gesprochen, wogegen die Romani-Sprachen Zentral- und Südeuropas sehr stark von den sie umgebenden Sprachen wie Albanisch und Türkisch auf dem Balkan, sowie von Rumänisch, Ungarisch und slawischen Sprachen beeinflusst wurden.
Die Mehrheit der europäischen Roma und Sinti zusammen mit ihren verschiedenen Untergruppen lebt in den Ländern Zentraleuropas oder auf dem Balkan, wie z.B. in Ungarn, in der Slowakei, der Tschechischen Republik, Bulgarien und Rumänien. Offizielle Volkszählungsangaben und Schätzungen von unabhängigen Menschenrechtsorganisationen sowie von Vertretungsorganisationen der Roma und Sinti weichen drastisch voneinander ab. Offizielle Volkszählungswerte beruhen zum Teil auf Sprachangaben, aber nicht alle Angehörigen der Roma- und Sinti-Gruppen sprechen auch heute noch die Sprache ihrer Minderheit.
Ausgelöst durch die traumatisierenden Erfahrungen während des Holocausts und aufgrund anhaltender Diskriminierung und Verfolgung bevorzugen viele Angehörige der Minderheit überhaupt nicht als Roma und Sinti registriert zu werden. Da Selbst- und Fremdwahrnehmung der betroffenen Personen oft nicht übereinstimmen, fällt es selbst ExpertInnen manchmal schwer zu „definieren“, wer als Roma oder Sinti anzusehen ist. In einigen west- und nordeuropäischen Ländern überschneiden sich die Roma- und Sinti-Gruppen teilweise mit anderen nicht-sesshaften Gruppen, z.B. die Tinker in Irland, die Travellers im Vereinigten Königreich und Schottland oder die Jenischen in Westösterreich, Süddeutschland, Norditalien und der Schweiz. Sowohl unter Forschenden als auch unter MinderheitenvertreterInnen gibt es widersprüchliche Diskussionen, ob diese Gruppen zu den europäischen Roma- und Sinti-Bevölkerungsgruppen zu zählen sind oder nicht.
Wanderungsbewegungen
Als Ursprungsland der europäischen Roma und Sinti gilt der Nordosten Indiens, wo heute noch kulturell und sprachlich verwandte Gruppen leben. Zwischen dem 5. und 11. Jahrhundert kam es zu mehreren Abwanderungswellen großer Bevölkerungsgruppen aus diesem Gebiet nach Persien und ins Byzantinische Reich. Aus dieser Periode stammen die zahlreichen persischen, armenischen und griechischen Lehnwörter in den modernen Roma-Sprachen. Auf die Zeit der Übernahme des christlichen Glaubens im Byzantinischen Reich geht auch die Benennung als „Zigeuner“ zurück. Mit dem griechischen Wort „atzinganos“ bezeichnete man damals so genannte „Unberührbare“, meist christliche Einsiedler aber auch andere, die außerhalb der Rechtshoheit der lokalen Behörden standen. Das Wort „Zigeuner“ deutet also auf einen besonderen Rechtsstatus hin, den die Roma bei ihrer Ankunft in Europa und teilweise noch bis ins 17. Jahrhundert genossen. In der Mehrheitsgesellschaft wird der Begriff „Zigeuner“ bis heute zumeist mit negativen, stereotypen Vorstellungen verbunden. Deshalb wird die Verwendung des Begriffs von den meisten Roma und Sinti als abwertend empfunden und abgelehnt.
Bereits 810 wurden Roma erstmals in Konstantinopel erwähnt, doch zu einer größeren Einwanderung nach Europa kam es erst im 14. Jahrhundert. Eines ihrer Siedlungszentren befand sich damals in einer „Klein- Ägypten“ genannten Gegend auf dem Peloponnes. Daher bezeichneten sich viele Roma und Sinti später bei ihrer Ankunft in Westeuropa auch als „Ägypter“. Die englische Bezeichnung „Gypsy“ ist eine Verkürzung der englischen Übersetzung „Egyptian“. Die Bezeichnung als „Ägypter“ könnte aber auch dadurch entstanden sein, dass ein Teil der nach Europa einwandernden Roma und Sinti über Ägypten und Nordafrika auf die iberische Halbinsel einwanderte.
Nach dem Zusammenbruch der christlichen Kreuzfahrerstaaten in Palästina und Kleinasien gelangten mit den rückflutenden Heeren auch viele „Zigeuner“ nach Westeuropa. Ihre heutigen Nachfahren bezeichnen sich selbst als Sinti, wobei der Ursprung dieses Namens nicht völlig geklärt ist. Sie gaben sich oft als „Adelige“ oder „Ägyptische Fürsten“ aus, waren aber eher so genannte „Gemeinfreie“, also keine herrschaftlichen Untertanen. Über Jahrhunderte dienten sie als Musiker oder als Söldner, Waffenschmiede und hoch geschätzte Kanonengießer der Söldnerheere. Erst mit der Aufstellung nationaler Volksheere wurden diese Gruppen freier Sinti im 17. Jahrhundert zusehends in die Illegalität gedrängt. Schließlich wurden sie sogar als „Räuber“ verfolgt.
Die Mehrheit der in Mittel- und Osteuropa lebenden Roma kam im Zuge der Türkenkriege in ihre heutigen Heimatländer. Oft wurden sie damals von christlichen Fürsten angesiedelt. So stellte etwa der ungarische König Sigismund 1423 einen Schutzbrief für seinen „Getreuen Ladislaus und die Zigeuner, die ihm Untertan sind“ aus. Manchen Roma gelang es sogar, in den Adelsstand aufzusteigen.
Diskriminierende kaiserliche Dekrete
Der Großteil der in Osteuropa lebenden Roma Gruppen war sesshaft. In vielen Städten, wie etwa in Istanbul, bewohnten sie eigene Stadtviertel. Im 18. Jahrhundert unternahmen Kaiserin Maria Theresia und ihr Sohn Joseph II. mehrere Versuche, die noch wandernden Roma zwangsweise sesshaft zu machen. Kaiserliche Dekrete der Jahre 1771 und 1782 wiesen den Roma zwar Grundstücke in den Dörfern zu, nahmen ihnen aber ihre Pferde weg und zwangen sie zur Arbeit als Tagelöhner. Viele der Roma Siedlungen in Österreich, der Tschechischen Republik, in der Slowakei, in Ungarn, Kroatien, Serbien und Rumänien gehen auf diese Dekrete zurück. Neben dem Verbot ihrer Sprache und der Ausübung ihrer Berufe wurden den „Zigeunern“ auch ihre Kinder weggenommen und zu „christlichen Familien“ in Erziehung gegeben. Viele Roma flohen vor dieser zwangsweisen „Zivilisierung“.
Die Initiative eines anderen Habsburgers, Erzherzog Joseph Karl Ludwig von Österreich, stieß bei den Roma hingegen auf ungeteilte Zustimmung. 1888 erschien in seinem Auftrag ein sechsbändiges Lexikon des Romanes, „Romano Csibakero Sziklaribe“, das versuchte 40 Roma–Dialekte zu einer Schriftsprache zu vereinen.
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts lebte der Großteil der osteuropäischen Roma als TagelöhnerInnen, landwirtschaftliche ArbeiterInnen oder ErntehelferInnen. Im Winter besserten die meisten ihren Lebensunterhalt durch die Ausübung von Wanderhandwerken (Kesselflicker, Scherenschleifer, Rastelbinder, Regenschirmflicker, Rechenmacher und Korbflechter) auf. Nicht wenige von ihnen konnten sich auch als MusikerInnen ein zusätzliches Einkommen sichern. Auch viele der in Westeuropa wohnenden Sinti und Roma übten Wandergewerbe aus, fuhren als Pferde- und Wanderhändler von Jahrmarkt zu Jahrmarkt, oder arbeiteten als SchaustellerInnen und MusikerInnen. Alle Bemühungen zur Emanzipation und gesellschaftlichen Integration der so genannten „Zigeuner“ wurden im 19. Jahrhundert durch die Entstehung straff organisierter Territorialstaaten zunichte gemacht. Rigide Pass- und Staatsbürgergesetze verwandelten viele Roma und Sinti in Staatenlose und neue Vagabondagegesetze machten die Ausübung von Wanderhandwerk unmöglich. Im späten 19. Jahrhundert gerieten die Roma immer mehr unter die Räder des modernen Polizeiapparates. Von der Polizei abgeschoben oder in Arbeitshäuser gesperrt, verarmten die Roma zusehends und wurden pauschal kriminalisiert. Während des Ersten Weltkriegs wurden wandernde Roma in vielen Ländern über Jahre in Gefangenenlagern interniert. Doch viele ansässige Roma dienten in verschiedenen Armeen und kehrten oft als hochdekorierte Veteranen zurück. Während der Weltwirtschaftskrise der Zwischenkriegszeit stiegen die Spannungen zwischen Roma und Gadje – den Nicht-Roma – wieder sprunghaft an. Immer weniger Gemeinden waren gewillt, Schulgeld, Spitalskosten und Fürsorgekosten aufzubringen, die die meist mittellosen Tagelöhner unter den Roma nicht begleichen konnten.
Ein „Cigányigazolvány“ genannter „Zigeunerausweis“ mit Foto und Fingerabdrücken,
ausgestellt in der ungarischösterreichischen Grenzstadt Szentgotthárd im Jahre 1937.
(Foto: Sammlung János Barsony. Budapest/Ungarn, gezeigt auf romasintigenocide.eu)
Zunehmende Restriktionen in der Zwischenkriegszeit
In vielen europäischen Staaten wurden in der Zwischenkriegszeit restriktive „Zigeunergesetze“ erlassen. Damals begann die Erfassung der „Zigeuner“ in der internationalen Zusammenarbeit der Polizeibehörden eine zentrale Rolle zu spielen. Dabei wurde erstmals in Europa auch das Abnehmen von Fingerabdrücken (Dakytoloskopie) flächendeckend angewandt. Ab 1912 wurden so genannte „Zigeuner“ in vielen Ländern fotografiert, daktyloskopiert und in einer Kartei registriert. 1933 fand schließlich im burgenländischen Oberwart eine so genannte „Zigeunerkonferenz“ mit Vertretern sämtlicher politischer Parteien statt, auf der erstmals Pläne für Zwangsarbeit oder die Deportation nach Afrika diskutiert wurden – denn man könne die „Zigeuner“, wie einer der Teilnehmer bemerkte, „ja nicht einfach umbringen“.
Dies blieb den Nationalsozialisten vorbehalten, die 1938 begannen, die Roma und Sinti zuerst in Arbeitslager – wie etwa das „Zigeunerlager“ Lackenbach im Burgenland – und ab 1941 in die Vernichtungslager nach Auschwitz-Birkenau und nach Chelmno in Polen zu deportieren. Mehrere hunderttausend europäische Roma und Sinti wurden zwischen 1938 und 1945 ermordet. Erst in den 1980er Jahren begann sich europaweit die Politik gegenüber den Roma und Sinti langsam zu ändern und in den folgenden Jahrzehnten wurden sie in fast allen Staaten offiziell als Minderheit anerkannt.
Weitere Informationen sowie Lernmaterialien zur Geschichte und zum Genozid an den Roma und Sinti finden Sie unter: romasintigenocide.eu
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