Interview mit Christian Angerer zu Hitlers Geburtshaus und zu nationalsozialistischer Täterschaft

"Es wäre doch eine lohnende Herausforderung, an diesem Ort eben diese gesellschaftliche Dimension des Nationalsozialismus und der nationalsozialistischen Täterschaft darzustellen – also den Hitler-Mythos aufzubrechen."

_erinnern.at_ hat den Historiker Dr. Christian Angerer, Leiter des _erinnern.at_ Netzwerk in Oberösterreich und Mitarbeiter der pädagogischen Abteilung der KZ-Gedenkstätte Mauthausen, zur pädagogischen Bedeutung Hitlers Geburtshauses und und zur Thematisierung von nationalsozialistischer Täterschaft in der Schule befragt.

_erinnern.at_: Welche Rolle spielt Hitlers Geburtshaus in der Gedächtnislandschaft in Oberösterreich?

Christian Angerer: Hitlers Geburtshaus spielt meiner Wahrnehmung nach in zweifacher Hinsicht eine Rolle in der oberösterreichischen Gedächtnislandschaft: einerseits als Ort, über dessen Nachnutzung heftig diskutiert wird, andererseits als „Wallfahrtsstätte“ der (nicht nur oberösterreichischen) Neonaziszene.

_erinnern.at_: Welche Rolle kommt Hitler als Täter überhaupt zu? Wird durch eine überbetonte Fokussierung auf die Person Hitler nicht ein großer Teil der nationalsozialistischen Täter verdrängt?

Christian Angerer: Für den Nationalsozialismus war der faschistische Kult um einen „Führer“ essenziell. Hitler hat diese Position eingenommen. Nicht weil er die Menschen mit seinem Charisma verführt hat, sondern weil ihm Charisma von den Menschen zugeschrieben wurde, die sich nach einem bewunderten „Führer“ gesehnt haben. Er hat mit dem, was er mitgebracht hat, „perfekt“ in diese Rollenerwartungen gepasst. Deshalb kann man die Geschichte des Nationalsozialismus nicht schreiben, ohne auf die Person Hitler einzugehen, und schon gar nicht, ohne sie als gesamtgesellschaftlichen Prozess zu begreifen.

_erinnern.at_: Was könnte an so einem Täterort, wie Hitlers Geburtshaus, vermittelt werden?

Christian Angerer: Es wäre doch eine lohnende Herausforderung, an diesem Ort eben diese gesellschaftliche Dimension des Nationalsozialismus und der nationalsozialistischen Täterschaft darzustellen – also den Hitler-Mythos aufzubrechen. Das ist ja in der Geschichtswissenschaft längst geschehen, in der Geschichtskultur aber vielfach noch nicht angekommen. Da könnte ein Bildungshaus in Braunau einen Beitrag leisten.

_erinnern.at_: Wie kann oder soll nationalsozialistische Täterschaft in der Schule vermittelt werden?

Christian Angerer: Die Gesellschaftsgeschichte des Nationalsozialismus ist zu einem großen Teil Strukturgeschichte, und Strukturgeschichte ist abstrakter als Ereignis- und Personengeschichte. Deshalb kommt sie im Schulunterricht oft zu kurz. Aber nur mit Strukturgeschichte erreicht man die Tiefenschichten, wo mögliche Erklärungen liegen: Welche sozialen, mentalen, ideologischen Ursachen (z.B. Armuts- oder Abstiegsgefährdung, Autoritätshörigkeit, Antisemitismus, Rassismus, Nationalismus) führten zum Wahlerfolg der Nationalsozialisten und dann zu den nationalsozialistischen Verbrechen? Diese Verbrechen wurden unter staatlicher Deckung und mit breiter gesellschaftlicher Zustimmung begangen. Täterschaft zog sich, in verschiedenen Graden der Beteiligung, quer durch alle Gesellschaftsbereiche. Das wäre in der Schule zu vermitteln. Wenn diese Strukturgeschichte unter anderem an Lebensgeschichten begreifbar gemacht werden kann, ist das für den Unterricht ein großer Gewinn. _erinnern.at_ liefert dazu ja mit dem Unterrichtsmaterial „Wer ist schuld am Tod von Edith Winkler?“ eine hervorragende Handreichung.

_erinnern.at_: Sollen österreichische Täter, Massenmörder wie etwa Eichmann, besondere Aufmerksamkeit in der schulischen Auseinandersetzung mit dem Holocaust bekommen?

Christian Angerer: Die bekannten Namen (Hitler, Eichmann usw.) kann man in der Schule nicht beiseitelassen. Oft entzündet sich das Interesse der Schüler und Schülerinnen gerade an solchen „dämonischen“ Namen, die sie gehört haben. Für den Unterricht kann das eine Art Initialzündung sein. Von den bekannten Namen sollte dann der Weg durch „Entdämonisierung“ in die Gesellschaftsgeschichte des Nationalsozialismus führen. Aus österreichischer Sicht scheint es mir wichtig, den großen österreichischen Anteil an der NS-Geschichte und auch an der NS-Täterschaft in der Schule darzustellen.

_erinnern.at_: Sie arbeiten in der pädagogischen Abteilung der KZ-Gedenkstätte Mauthausen, welchen Stellenwert hat die Vermittlung von Täterschaft an der Gedenkstätte?

Christian Angerer: In der 2013 eröffneten neuen Überblicksausstellung besitzt die Beschäftigung mit der SS relativ großes Gewicht. Die Entwicklung geht international meiner Ansicht nach hin zu einem weiteren Begriff von Täterschaft, eben im Sinn einer Gesellschaftsgeschichte des Nationalsozialismus. Das zeigt sich etwa in der neuen Ausstellung an der KZ-Gedenkstätte Buchenwald oder am Erinnerungsort „Topf und Söhne. Die Ofenbauer von Auschwitz“ in Erfurt. Wir versuchen an der KZ-Gedenkstätte Mauthausen diesem Anspruch in der personalen Vermittlung, also in den Rundgängen, einigermaßen gerecht zu werden, indem wir sowohl die SS als auch das gesellschaftliche Umfeld besprechen. Der Rundgang folgt einem pädagogischen Konzept, das die historische Erzählung multiperspektivisch anlegt (Opfer – Täter – Umfeld) und die eigenständige Wahrnehmung der Besucher und Besucherinnen durch Interaktivität stärkt. Dabei zeigt sich, dass die Themenbereiche Täter und Umfeld besonders zur Diskussion herausfordern.

_erinnern.at_: Was soll mit Hitlers Geburtshaus nach der geplanten Enteignung passieren?

Christian Angerer: Die Argumentation, mit dem Abriss einen negativen Kultort zu beseitigen, hat zwar etwas für sich. Aber ein Bildungshaus zur Gesellschaftsgeschichte des Nationalsozialismus schiene mir ertragreicher und auch machbar. Und überdies, Hitlers Geburtshaus hätte als Erinnerungsort auch eine Funktion: materiell auch in Zukunft deutlich zu machen, dass der Nationalsozialismus Wurzeln in unserer Geschichte, in der Gesellschaft unserer Vorfahren hat – hier in Österreich.

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Dr. Christian Angerer, Leiter des _erinnern.at_ Netzwerk in Oberösterreich und Mitarbeiter der pädagogischen Abteilung der KZ-Gedenkstätte Mauthausen, hat gemeinsam mit Maria Ecker in der Sachbuchreihe von _erinnern.at_ das Buch "Nationalsozialismus in Oberösterreich. Opfer – Täter – Gegner“ verfasst.