Nachkommen von jüdischen Überlebenden sprechen über ihre Erinnerungen und Erzählmotive

Am ZeitzeugInnen-Seminar am 12. und 13. März 2023 in Wien nahmen auch Nachkommen von österreichischen NS-Verfolgten teil und teilten ihre familienbiografischen Erinnerungen in einer Podiumsdiskussion.

„Ich bin nicht mehr derselbe wie davor“, antwortete Mario Merl, der mit seinen Eltern und seinem Sohn Pascal bereits 2016 an einer Podiumsdiskussion am ZeitzeugInnen-Seminar von ERINNERN:AT teilgenommen hat, auf die Frage, was die intensive Beschäftigung mit der eigenen Familiengeschichte mit ihm gemacht habe. Sein Vater Harry Merl, geboren 1934, überlebte den Nationalsozialismus in Wien und war in den Monaten vor der Befreiung in einem Keller versteckt. Die Großeltern mussten während des Krieges Zwangsarbeit für die Vugesta („Verwaltungsstelle jüdischen Umzugsgutes der Gestapo“) leisten. Nach der Befreiung zog innerhalb der Familie ein „solidarisches Schweigen“ ein, das sowohl die nationalsozialistische Verfolgung als auch das Überleben durch Versteck und Zwangsarbeit betraf und viele Jahrzehnte anhielt. Pascal Merl schließlich, Jahrgang 1990, schrieb im Rahmen seines Lehramtsstudiums seine Bachelorarbeit über die Kindheit seines Großvaters und forscht bis heute an der Geschichte der Familie. In den vergangenen Jahren begleitete er seinen Großvater, den „Hüter des Familiengeheimnisses“, zu mehreren Zeitzeugengesprächen an Schulen.

 

Pascal und sein Vater Mario Merl - Nachkommen des Zeitzeugen Harry Merl (Foto: OeAD / APA-Fotoservice Rastegar).

Inwieweit ist die Geschichte der Großeltern und der Eltern auch die eigene Geschichte? Wie wird die eigene Geschichte beeinflusst? Welche Rolle spielen transgenerationale Prozesse im Familiengedächtnis? Sechs Nachkommen von österreichischen Holocaust-Überlebenden unterschiedlichen Alters teilten in einer von Gert Dressel moderierten Podiumsdiskussion am ZeitzeugInnen-Seminar im März 2023 in Wien ihre Perspektiven auf familienbiografisches Erinnern und Erzählen. Furcht und Mut sind zwei zentrale Begrifflichkeiten, die in den Narrationen der Nachkommen mehrfach vorkamen und sich u.a. auf die Herstellung von Öffentlichkeit bezogen – nicht abschätzbar war für viele, was geschehen würde, wenn die jüdische Familiengeschichte publik gemacht würde.

Die Motivation, über ihre Familie zu erzählen und an die Shoah und ihre Opfer zu erinnern, beschrieb Milli Segal, geboren 1954 in Wien: „Ich habe das Gefühl, was für meine Familie zu machen, die es nicht mehr gibt.“ Dabei hatte sie sich lange Zeit nicht für die Familiengeschichte interessiert. Segal gehört zur so genannten „zweiten Generation“ und ist unter dem „Schatten der Shoah“ aufgewachsen, wie sie sagte. Ihre Eltern und ihre ältere Schwester überlebten den Nationalsozialismus, Milli Segals Vater verlor, bis auf eine Schwester, seine ganze Familie. Auch die Großmutter mütterlicherseits wurde in Auschwitz ermordet. Heute befasst sich Milli Segal beruflich mit dem Holocaust, sie kuratierte und produzierte zahlreiche Ausstellungen und Filme und verknüpfte diese mit Vermittlungsarbeit an Schulen. Im eigenen Geschichte-Unterricht wurde die Zeit zwischen 1938 und 1945 ausgeklammert, Segal war das einzige jüdische Mädchen in der Schule. Über die nationalsozialistische Verfolgung und Vernichtung sprach ihr Vater sehr viel – dies auch als Art Therapie, erzählte Segal.

 

 V.l.n.r.: Ronny Böhmer, Lia Böhmer, Anna Goldenberg, Milli Segal, Pascal Merl, Mario Merl und Moderator Gert Dressel (Foto: OeAD / APA-Fotoservice Rastegar).

Einen Anstoß von außen brauchte Anna Goldenberg, Jahrgang 1989, um über ihre Familiengeschichte zu recherchieren. Sie ist die Enkelin von Helga Feldner-Busztin (vormals Helga Pollak), die 1943 mit ihrer Mutter und Schwester Elisabeth (heute Scheiderbauer) ins KZ Theresienstadt deportiert wurde. Alle drei überlebten, ebenfalls der in Auschwitz internierte Vater. Seit den 1990er Jahren spricht Helga Feldner-Busztin als Zeitzeugin in Schulen über ihre Erfahrungen und äußert sich öffentlich zu politischen Themen, so auch ihre Schwester. 2018 publizierte Anna Goldenberg das Buch „Versteckte Jahre“ über die Geschichte des Ehepaars Feldner-Busztin.

Ein anderes Medium wählten Lia und Ronny Böhmer, die 2019 den Film „Dem Buchenwald Häftling Robert Böhmer auf der Spur“ (35 Min.) als ein gemeinsames Ergebnis ihrer intensiven Beschäftigung mit der Geschichte der Eltern und Großeltern produzierten. Der Film war für die eigene Familie gemacht worden, stieß jedoch auf großes Interesse und führte in den Jahren danach und bis heute zu einer Reihe an Schulvorführungen und öffentlichen Gesprächen. Ronaldo (Ronny) Böhmer, wurde 1946 in Buenos Aires geboren. Seine Eltern, eine Berlinerin und ein Wiener, konnten vor den Nationalsozialisten nach Argentinien bzw. Uruguay flüchten und lernten sich dort kennen. 1954 kehrte die Familie nach Wien zurück. Mit seiner Frau Evelyn Böhmer-Laufer und seiner Tochter Lia initiierte Ronny 2004 das Projekt „peacecamp“. Es handelt sich um ein künstlerisches, pädagogisches und therapeutisches Dialogprojekt für jüdische und arabische Israelis, sowie Gleichaltrige aus Ungarn und Österreich, welches seitdem 17 Mal durchgeführt wurde.

Lia Böhmer produzierte mit ihrem Vater Ronny einen kurzen Film über ihren Großvater, der das KZ Buchenwald überlebte und nach Südamerika emigrieren musste. Ronny Böhmer (im Bild links) zeigte den Film bereits mehrfach an Schulen und spricht als Nachkomme zu SchülerInnen (Foto: OeAD / APA-Fotoservice Rastegar).

Ronnys Tochter Lia Böhmer ist 1989 in Jerusalem geboren, die Familie zog zwei Jahre später wieder nach Wien. 2007 nahm sie an einer Reise des Jugendvereins Hashomer Hatzair nach Polen teil, wo sie Gedenkstätten ehemaliger Konzentrations- und Vernichtungslager besuchten. „Hier beschäftigte ich mich aber noch sehr entkoppelt von meiner persönlichen Familiengeschichte mit dem Thema“, erzählte die in der offenen Jugendarbeit tätige Lia Böhmer. Erst als ich älter wurde, begann ich mich mehr mit meiner Familiengeschichte zu beschäftigen. Hier in erster Linie durch Gespräche und Erzählungen meiner Großmutter, sie ist 2014 verstorben und dann wieder, durch die gemeinsame Reise mit meinen Eltern nach Weimar und der Besichtigung der Gedenkstätte des Konzentrationslagers Buchenwald. Im Anschluss entstand der Film, den ich mit meinem Vater produziert habe.“ Von der Großmutter habe sie den Auftrag bekommen, dass die Familiengeschichte nicht in Vergessenheit geraten dürfe und sie als Nachfolgerin diese bewahren müsse.

2023 brachte das jährliche stattfindende ZeitzeugInnen-Seminar PädagogInnen mit ZeitzeugInnen und Nachkommen ins Gespräch (Foto: OeAD / APA-Fotoservice Rastegar).

Der Bedeutung von Nachkommen-Erzählungen in der historisch-politischen Bildungsarbeit widmete sich eine abschließende Runde der Podiumsdiskussion. Betont wurde die positive Resonanz, auf die die VertreterInnen der Zweiten und Dritten Generation in unterschiedlichen Bildungs- und Vermittlungssettings stoßen. In Klassenzimmern werde versucht, Beziehung über Gemeinsamkeiten herzustellen. „Viele Kinder und Jugendliche, zu denen wir sprechen, wissen was Krieg und Flucht bedeuten.“ Beeindruckend sei für die Jugendlichen auch die Erkenntnis, dass „da jemand redet, den es den Nationalsozialisten nach nicht geben würde.“ Aus der Geschichte zu lernen, um die Zukunft mitzugestalten, sei eine der Kernbotschaften, die sie gerne vermitteln möchten.

Sich den didaktischen Chancen und Grenzen des Lernens von und mit Nachkommen NS-Verfolgter zuzuwenden ist dem OeAD-Programm ERINNERN:AT ein Anliegen. Hierzu ist der Erfahrungsaustausch mit Nachkommen, aber auch mit Projekten und Fachleuten im In- und Ausland bereichernd und richtungsweisend.

 

Ansprechperson im ZeitzeugInnen-Programm des OeaD-Programms ERINNERN:AT zum Thema Nachkommen: julia.demmer@oead.at