ZeitzeugInnen-Seminar 2023: Grundlagen und Potenziale pädagogischer ZeitzeugInnenarbeit mit NS-Verfolgten und Nachkommen
Über 80 Lehrkräfte und AkteurInnen der Vermittlungs- und Bildungsarbeit kamen am 12. und 13. März 2023 aus ganz Österreich zum ZeitzeugInnen-Seminar in Wien zusammen. Das Programm orientierte sich sowohl an didaktischen Fragen zur pädagogischen ZeitzeugInnenarbeit mit NS-Verfolgten als auch an aktuellen Diskursen über das „Ende der Zeitzeugenschaft“ und neuen Vermittlungsansätzen.
Einführungsworkshop für Lehrkräfte
Der erste Teil des Seminars behandelte die konkrete Durchführung von ZeitzeugInnen-Gesprächen mit SchülerInnen, und zwar sowohl auf der inhaltlich-didaktischen als auch organisatorischen Ebene. Zunächst tauschten sich die teilnehmenden PädagogInnen über ihre bisherigen Erfahrungen mit dem Besuch von ZeitzeugInnen an ihrer Bildungseinrichtung aus; was ihnen besonders eindrücklich in Erinnerung geblieben ist und was sie als positiv oder als schwierig erlebten. In den folgenden Inputs behandelten die SeminarmoderatorInnen Julia Demmer und Gert Dressel Fragen rund um die Vor- und Nachbereitung sowie Leitung eines ZeitzeugInnen-Gesprächs: Welche ZeitzeugInnen können meine Klasse besuchen? Was sind „gute“, produktive Fragen an ZeitzeugInnen? Welchen Herausforderungen kann ich wie begegnen?
Zu Beginn des Seminars stand der Austausch über Erwartungen und Intentionen von ZeitzeugInnen-Gesprächen im Unterricht im Zentrum (Foto: OeAD / APA-Fotoservice / Rastegar).
„Ende der Zeitzeugenschaft?“ – Ausstellungsbesuch und neue Lernmaterialien
Am Sonntagnachmittag besuchten die Teilnehmenden im Rahmen des Seminars die Ausstellung „Ende der Zeitzeugenschaft?“ im Haus der Geschichte Österreich ERINNERN:AT ist Kooperationspartner der Ausstellung und hat Unterrichtsmaterialien zum Ausstellungsthema entwickelt, die sowohl zur Vor- und Nachbereitung eines Schulbesuchs aber auch unabhängig davon ab der 8. Schulstufe zum Einsatz kommen können. Die Seminargruppe bekam eine Führung durch die Ausstellung sowie Einblicke in die dazugehörigen Lernmaterialien: Anhand von konkreten Lebensgeschichten behandeln diese den Entstehungshintergrund von ZeitzeugInnenerzählungen, den Wandel ihrer Funktion seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, den Einsatz von Video-Interviews, Bedingungen und Grenzen des Erinnerns und Erzählens und aktuelle Herausforderungen der Erinnerungs- und Gedenkarbeit. Damit eignen sie sich auch zur Vor- und Nachbereitung eines ZeitzeugInnengesprächs im Unterricht.
Die Ausstellung ist noch bis 3. September 2023 zu besuchen. Das Haus der Geschichte bietet vor Ort ein umfassendes Vermittlungsangebot für Schulen an.
Die Ausstellung „Ende der Zeitzeugenschaft?“ im hdgö thematisiert die Bedeutung und Entwicklung von Zeitzeugenschaft in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft (Foto: OeAD / Barton).
Erzählcafés – mit ZeitzeugInnen im Gespräch
Am zweiten Seminartag kamen die ZeitzeugInnen hinzu und ermöglichten jenen Teil des Fortbildungsformats, der das Herzstück der Veranstaltung bildet: die Erzählcafés – kleine moderierte Gesprächsrunden, zu denen sich je eine Gruppe PädagogInnen mit einem/einer der ZeitzeugInnen zusammenfindet.
Wir freuen uns, Yvonne Cuscoleca seit 2023 neu im ZeitzeugInnen-Programm von ERINNERN:AT begrüßen zu dürfen – in den Erzählcafés des Seminars teilte sie ihre Lebensgeschichte mit den Teilnehmenden (Foto: OeAD / APA-Fotoservice / Rastegar).
In diesem Rahmen haben die Teilnehmenden die Möglichkeit, die ZeitzeugInnen näher kennen zu lernen und ihren lebensgeschichtlichen Erzählungen zu folgen. Eine Gelegenheit des Vorab-Gesprächs, die im normalen Schulalltag meist aus Zeitgründen nicht möglich ist. Aktuell sind österreichweit noch rund zwölf ZeitzeugInnen aktiv (siehe Kurzbiografien). Neun von ihnen nahmen am Seminar teil. Zusätzlich waren auch Hanna Feingold und Dagmar Pfeifer, die Ehefrauen der verstorbenen Zeitzeugen Marko Feingold und Karl Pfeifer, zu Gast und teilten ihre Erfahrungen. Mehr zum Thema ZeitzeugInnen-Unterrichtsbesuche mit ERINNERN:AT erfahren Sie hier.
Zeitzeuge Ludwig („Lutz“) Elija Popper betonte, wie wichtig die kontinuierliche Weitergabe von Erinnerung ist – heute mehr denn je (Foto: OeAD / APA-Fotoservice / Rastegar).
„Dicht und inspirierend“, so beschreibt eine Lehrerin das Seminar am Ende. Es sei auch die breite Expertise sowie Fragen und Inputs der unterschiedlichen TeilnehmerInnen gewesen, die das Zusammentreffen zu einem so bereichernden Erlebnis gemacht hätten. Eine weitere Lehrerin meldete zurück: „Für mich war dieses Seminar das bereicherndste Seminar in meiner ganzen Laufbahn – ich bin seit 12 Jahren Lehrerin.“
Im Plenum sprach die Zeitzeugin Katja Sturm-Schnabl, die mit ihrer Familie als Angehörige der Volksgruppe der Kärnter SlowenInnen im Nationalsozialismus verfolgt wurde. Nach dem Krieg studierte sie Slawistik in Wien und wurde Universitätsprofessorin mit dem Schwerpunkt slowenische Literatur- und Kulturgeschichte (Foto: OeAD / Barton).
Podiumsdiskussion: Nachkommen NS-Verfolgter besuchen Schulen
2023 stand das Seminar auch im Zeichen der Zukunft der ZeitzeugInnenschaft. Wie können Erinnerungen persönlich weitergegeben werden, wenn es keine ZeitzeugInnen mehr gibt, die über Ihre Erfahrungen sprechen können? Neben der gemeinsamen Exkursion ins Haus der Geschichte Österreich, bot ein Podiumsgespräch mit sechs Nachkommen jüdischer Überlebender aus Österreich am zweiten Seminartag neue Perspektiven auf das Thema und die Vermittlung von NS-Geschichte anhand konkreter Lebensgeschichten. Über welche Ansätze, Erfahrungen und verschiedenen Wege sie jeweils berichteten, um die Erinnerungen ihrer Vorfahren an die nächsten Generationen weiterzugeben, lesen Sie hier in einem eigenen Artikel.
Das kommende ZeitzeugInnen-Seminar wird am 3. und 4. März 2024 in Wien stattfinden. Über aktuelle Informationen sowie den Anmeldestart zum Seminar 2024 informieren wir Sie hier sowie über unseren Newsletter.
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