Rückblick: Zeitzeuginnen- und Zeitzeugen Seminar 2024
Über 90 Lehrkräfte aus ganz Österreich nahmen 2024 am traditionsreichen Zeitzeuginnen- und Zeitzeugenseminar in Wien teil. Das Seminar gibt es seit den 1970er Jahren in Österreich. Es findet jährlich statt und ist die größte Fortbildung für Lehrpersonen zum Thema Zeitzeuginnen- und Zeitzeugenarbeit. Neben theoretischen und praktischen Inputs zum Lernen mit und aus Lebensgeschichten für die eigene Unterrichtspraxis, stand der Austausch mit den Zeitzeuginnen und Zeitzeugen im Fokus. Lehrpersonen hatten die Möglichkeit, die Zeitzeuginnen und Zeitzeugen kennenzulernen, die über das OeAD-Programm ERINNERN:AT für Schulgespräche angefragt werden können. Es handelt sich dabei um NS-Verfolgte, die bis 1945 geboren sind.
Möglichkeitsräume für biografisches Erzählen herstellen
Der erste Tag befasste sich mit pädagogischen und organisatorischen Fragestellungen zum Einbezug von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen und ihren lebensgeschichtlichen Erzählungen im Unterricht. In einem theoretischen Einführungsvortrag stellte Bettina Dausien Herausforderungen und Potentiale zum Lehren und Lernen mit Lebensgeschichten ins Zentrum. Dausien, die 2009 bis 2023 die Professur für „Pädagogik der Lebensalter“ am Institut für Bildungswissenschaft der Universität Wien innehatte, befasst sich seit vielen Jahren mit Konzepten biografieorientierter Bildungsarbeit, dem Lernen mit Lebensgeschichten und qualitativer Forschung in diesem Bereich.
Bettina Dausien betonte, dass im Unterricht „Möglichkeitsräume“ für lebensgeschichtliches Erzählen bewusst geschaffen werden müssen. Dazu stellte sie fünf Thesen auf:
1. Biographisches Lernen ist immer ein unsicherer, offener und komplexer Prozess, der sich pädagogisch nicht „steuern“, sehr wohl aber reflektieren und professionell begleiten lässt.
2. Eine Instrumentalisierung von Lebensgeschichten und eine „forcierte Didaktisierung“ sind für biografisches Lernen kontraproduktiv.
3. Stattdessen gilt es, Bildungssituationen herzustellen und zu begleiten, in denen biografisches Erzählen und Lernen ermöglicht wird.
4. Lernende bringen biografische Erfahrungen und Potenziale mit, es geht darum, diese zu erkennen und anzuerkennen und ihnen einen Rahmen zu geben.
5. Das stellt hohe Anforderungen an Lehrende, deshalb sind Räume für Professionalisierung, Reflexion und Erfahrungsaustausch über biografieorientierte Arbeit notwendig.
(Quelle: Dausien, Präsentationsfolien Zeitzeuginnen- und Zeitzeugenseminar 2024)
Ausgangspunkt dafür seien nach Dausien didaktische Ansätze in der Tradition des biografischen Erzählens in der Bildungsarbeit, insbesondere der Erwachsenenbildung. Erfahrungswelten, Vorerfahrungen, Vorwissen, Bezugspunkte der Teilnehmenden rücken in den Vordergrund (z.B. Interessen und Fragen der SchülerInnen). Unter der Prämisse „von der Vermittlung zur Aneignung“ stehen Reflexions- und individuelle Lernprozesse der SchülerInnen im Fokus.
Die Vor- und Nachbereitung der Gespräche könne sich dahingehend öffnen und gestaltet werden. Lehrpersonen sollten genügend Zeit einplanen, auch nach einem Zeitzeuginnen- und Zeitzeugengespräch, um das, was die Erzählungen der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen „anstoßen“ oder „auslösen“ auch nachzubesprechen (etwa durch gemeinsames Weiterlesen, Weiterrecherchieren, Fragen und Erzählen in der eigenen Familie etc.).
Organisation von Unterrichtsbesuchen von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen
Organisatorische Fragen zu den Schulgesprächen beantwortete Julia Demmer, Leiterin des Zeitzeuginnen- und Zeitzeugen Programms bei ERINNERN:AT. Den Teilnehmenden wurde ein Handout mit den wichtigsten Fragen und Tipps zur Organisation sowie Vor- und Nachbereitung der Schulgespräche zur Verfügung gestellt. Mehr zum Thema Unterrichtsbesuche von Zeitzeuginnen und Zeitzeugen mit ERINNERN:AT erfahren Sie hier.
Vorstellung von Lernmaterialen mit Lebensgeschichten
Die anschließenden Worldcafés vertieften die Anregungen aus dem Einführungsvortrag und widmeten sich konkreten Lernmaterialien, die mit biografischen Interviews, Texten und Dokumenten arbeiten (Infos dazu finden Sie am Ende des Seminarprogramms 2024). Es wurden Lernmaterialien von ERINNERN:AT und anderen Einrichtungen vorgestellt. ERINNERN:AT arbeitet seit vielen Jahren mit aufgezeichneten Lebensgeschichten NS-Verfolgter und sieht darin eine wichtige Möglichkeit, auch in Zukunft die Erfahrungswelten und Perspektiven Überlebender in die Bildungsarbeit einzubinden.
Stadtkino: Der schönste Tag
Am Ende des ersten Seminartages wurde der Film „Der schönste Tag" im Stadtkino Wien gezeigt. Anschließend fand ein Gespräch mit Regisseur Fabian Eder und AHS-Lehrerin und ERINNERN:AT Netzwerkkoordinatorin Antonia Winsauer statt (Moderation: Victoria Kumar, OeAD ERINNERN:AT). Im Mittelpunkt des Films stehen Dialoge zwischen Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, und ihren Enkelkindern. Der 2021 fertiggestellte Film und die dazugehörige Serie („Sprich mit mir“), die von Fabian Eder eigens für den Unterricht entwickelt wurde, regt an, sich kritisch mit den öffentlichen und familiären Erinnerungsdiskursen in Österreich zu befassen und ist in vielen Bundesländern (Oberösterreich, Tirol, Niederösterreich, Vorarlberg, Wien) für Pflichtschulen kostenlos verfügbar.
Podiumsgespräch: Aus Geschichte(n) lernen?
Der zweite Seminartag begann mit einem Gespräch mit Expertinnen und Experten aus unterschiedlichen Bereichen der Vermittlungs- und Zeitzeugenarbeit. Gert Dressel (Doku Lebensgeschichten, Universität Wien) moderierte das Gespräch mit Bettina Dausien (Sozialwissenschaftlerin und Biografieforscherin Universität Wien), Maria Ecker-Angerer (Historikerin, Pädagogin und Psychotherapeutin), Anne Pritchard-Smith (AHS Lehrerin, DaF/DaZ Fortbildnerin und Kuratorin der Ausstellung „Vielgeschichtig“) und Markus Priller (Rotes Kreuz, „ProjektXchange“ und „A letter to the Stars“). Es ging um persönliche Erfahrungen und Herangehensweisen aus unterschiedlichsten Praxisfeldern der Zeitzeuginnen- und Zeitzeugenarbeit (z.B. Schule, Museum, Psychotherapie, internationale Austauschprojekte mit SchülerInnen und Studierenden und Forschung).
Erzählcafés mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen
Nach dem ExpertInnen-Gespräch trafen die Zeitzeuginnen und Zeitzeugen, die sich aktuell im Bereich der Schulbesuche engagieren, beim Seminar ein. Nach einer feierlichen Eröffnung fanden moderierte Gesprächskreise in Kleingruppen statt. SeminarteilnehmerInnen konnten jeweils an den Erzählcafés zweier Zeitzeuginnen und Zeitzeugen teilnehmen und deren Lebensgeschichten kennenlernen. Welche Überlebenden der NS-Verfolgung aktuell mit ERINNERN:AT an österreichische Schulen gehen, sehen Sie hier. Mehr als die Hälfte dieser Zeitzeuginnen und Zeitzeugen nimmt jährlich am Seminar teil.
Save the Date 2025
Das nächste Zeitzeuginnen- und Zeitzeugen-Seminar findet am 9. und 10. März 2025 in Wien statt: Weitere Informationen
Links
- Das Zeitzeuginnen- und Zeitzeugen Seminar 2025
- Zeitzeuginnen- und Zeitzeugen Seminar: Berichte seit 2008
- Informationen zu Zeitzeuginnen- und Zeitzeugenbesuchen im Unterricht
- Kurzbiografien der Zeitzeuginnen- und Zeitzeugen
- Lernen mit Video-Interviews