Die Deportation von Jüdinnen und Juden in „geschützten Mischehen“ ins Arbeitserziehungslager Reichenau
Rassistisches Gesetz verbot „Mischehen“
Seit 1935 regelten die Nürnberger Gesetze die rassistische und antisemitische Ideologie des Nationalsozialismus (NS). Sie legten etwa fest, wer als jüdisch eingestuft und folglich von der „Volksgemeinschaft“ ausgeschlossen wurde. Außerdem verboten die Gesetze Eheschließungen zwischen „deutschblütigen“ bzw. „arischen“ Menschen einerseits und jenen mit jüdischer Zuschreibung andererseits.
Diese sogenannten „Mischehen“ wurden in den folgenden Jahren der NS-Herrschaft nicht zwangsläufig geschieden oder aufgelöst, sagt Nikolaus Hagen, Historiker am Institut für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck. Die diskriminierenden Gesetze galten nur teilweise für die jüdischen Ehepartnerinnen und -partner. In gewisser Weise handelte es sich deshalb um „geschützte Mischehen“.
Zwischen Hoffen und Bangen
Als sich das NS-Terrorregime mit dem Novemberpogrom 1938 und danach weiter radikalisierte und Jüdinnen und Juden aus dem Gau zwangsweise ausgewiesen wurden, waren Betroffene in diesen „Mischehen“ vereinzelt ausgenommen. „Weil sie mit ‚arischen‘ Personen verheiratet waren, durften sie unter bestimmten Umständen in ihren Wohnungen bleiben“, meint Hagen.
Im Laufe der Kriegsjahre und mit den Deportationen in Vernichtungslager im Deutschen Reich stellte sich für Eheleute in betroffenen „Mischehen“ laufend die Frage, wie das Regime den Umgang mit ihnen auslegte. „Es war immer in der Schwebe, was mit ihnen passiert. Die Familien befanden sich deshalb stets zwischen Hoffen und Bangen“, so der Historiker. Das bedeutete konkret die Hoffnung darauf, von den Verfolgungen verschont zu bleiben bzw. das Bangen davor, dass doch noch etwas passiert.
Hofer wollte „judenfreien“ Gau
Schließlich wurde im Frühjahr 1943 klar, dass doch etwas passieren sollte. Der Innsbrucker Gestapo-Chef Werner Hilliges und Gauleiter Franz Hofer griffen zu einer drastischen Maßnahme, meint Hagen. Hofer wollte den Gau Tirol-Vorarlberg anlässlich des Geburtstages von Adolf Hitler am 20. April „judenfrei“ machen. Aus diesem Grund gingen ab dem 10. April Haftbefehle an die noch verbliebenen Jüdinnen und Juden in „geschützten Mischehen“. Sie hatten sich über die nächsten Wochen mit ein wenig Hab und Gut im Lager Reichenau bei Innsbruck einzufinden.
Zwar habe es in verschiedenen anderen Orten zuvor ähnliche Aktionen gegeben. Nichtsdestotrotz sei es laut Hagen eine außergewöhnliche Form der Verfolgung gewesen. Der Grund dafür: Das NS-Regime hatte zentral von Berlin aus keine solche Verhaftungswelle angeordnet. Es handelte sich dabei um eine regionale Initiative. Insgesamt wurden dabei 25 Personen festgenommen. Sie kamen aus verschiedenen Orten im Gau, etwa aus Bregenz, Telfs oder Innsbruck.
Aufregung führt zu Abbruch der Aktion
Auch Maria Teuber erhielt einen Bescheid zur Deportation. Sie stammte aus einer jüdischen Familie aus Berlin. Obwohl sie aus der Israelitischen Kultusgemeinde ausgetreten war, galt sie in der Rassenideologie der Nazis als Jüdin in einer „Mischehe“, schildert der Historiker Philipp Lehar. Ihr Ehemann, Oskar Teuber, war ein ehemaliger k.u.k.-Offizier aus Wien und in Innsbruck sehr anerkannt. „Teubers Brüder, Emmerich und Wilhelm, waren die Gründer der Pfadfinder in Österreich und als Offiziere der Kaiserjäger ebenfalls sehr angesehen“, so Lehar.
Aufgrund ihres hohen Alters und aus Angst vor dem Tod in einem Konzentrationslager entschieden sich Maria und Oskar Teuber dafür, sich vor ihrer Verhaftung gemeinsam das Leben zu nehmen. Zum Begräbnis in Innsbruck seien viele ehemalige Offiziere gekommen, meint Lehar. Die drohende Deportation und der Suizid erregten großes öffentliches Aufsehen in der Stadt sowie Kritik am NS-System.
Auch bei anderen betroffenen Familien sorgten die Verhaftungen für Widerspruch. Die „arischen“ Familienmitglieder intervenierten deshalb bei der Gestapo oder bei Bürgermeistern, teilweise auch über Kontakte in Berlin. Die Aufregung in der Öffentlichkeit war daraufhin so groß, dass die eigenmächtige Maßnahme von der Reichshauptstadt per Befehl gestoppt wurde, erklärt Nikolaus Hagen.
Willkürliche Morde im Lager Reichenau
Anfang Juni wurde der Großteil der Betroffenen wieder freigelassen und die „Hilliges-Aktion“ kam zum Erliegen. Für manche war es trotzdem zu spät. Olga Quandest, geboren 1891 in Innsbruck, wurde zum Beispiel bereits am 14. Mai 1943 von Innsbruck nach Auschwitz deportiert. Zwei Monate später wurde sie dort ermordet. Ein ähnliches Schicksal ereilte Dorothea Boscowitz, die zuvor in Telfs gelebt hatte.
Der ehemalige Soldat und Innsbrucker Kaufmann Egon Dubsky war mit einer „Arierin“ verheiratet. Als Jude genoss er somit ebenfalls einen geringen Schutz in einer „Mischehe“. Ende Mai 1943 wurde er jedoch verhaftet. Zuerst landete er im Polizeigefängnis in Innsbruck und dann im Arbeitserziehungslager Reichenau. Am 2. Juni tötete ihn Gestapo-Chef Hilliges dort mit einem Schuss in den Kopf.
Der Mord an Dubsky verdeutlicht laut der Historikerin Sabine Pitscheider, die sich intensiv mit der Geschichte der NS-Lager in Tirol beschäftigte, die Willkür des Regimes. Egon Dubsky sei der Gestapo „einfach lästig“ gewesen, meint sie. Hilliges sei schlichtweg genervt gewesen, er habe einen Abend benützt und ihn erschossen. „Das Schlimme am Gestapo-Lager Reichenau ist die beiläufige Grausamkeit, dieser unbestrafte Sadismus, der hier passieren konnte. Man tut es, weil es nicht verboten ist, also macht man es“, so Pitscheider.
Forschung und Erinnerung zum Lagerkomplex
Gemeinsam mit dem Historiker Horst Schreiber verfasste Pitscheider eine Studie zu den Toten des Arbeitserziehungslagers Reichenau und zur Nachnutzung des Lagerkomplexes. Im Jahr 1943 habe laut ihr das Sterben in der Reichenau so richtig begonnen.
Das hänge damit zusammen, dass die Wachmannschaft wechselte. Statt der SS-Männer führten Gendarmeriebeamte oder Polizisten den Dienst aus. Dabei habe sich auch die Funktion des Lagers gewandelt: von einem Auffanglager für ausländische Hilfs- und Zwangsarbeiter hin zu einem Gestapo-Lager für politische Häftlinge. Zusätzlich gab es dort auch weitere Lager der Stadt Innsbruck, der Post und der Bahn.
Nach der Befreiung 1945 erfüllten die Baracken unterschiedliche Funktionen. Sie beherbergten Vertriebene, ehemalige Nazis und später die Ärmsten der Innsbrucker Bevölkerung. Ende der 1960er Jahre entstand schließlich der städtische Bauhof. Im Jahr 1972 wurde in Erinnerung an die Verbrechen am Rand der Stadt ein Mahnmal errichtet.
Seit mehreren Jahren gab es Kritik an der unwürdigen Situation dieser Form der Erinnerungskultur neben dem Recyclinghof. Zuletzt empfahl ein Bericht einer Kommission von Expertinnen und Experten die Errichtung einer neuen Gedenkstätte – mehr dazu in Reichenau: Neues Mahnmal für NS-Opfer. Ende Februar sprach sich der Innsbrucker Gemeinderat einstimmig für eine Änderung aus. Noch vor dem Sommer soll ein künstlerischer Wettbewerb für die Neugestaltung eines Gedenkortes starten, hieß es von der zuständigen Leiterin der Kommission, Gemeinderätin Irene Heisz (SPÖ).
Der vorgesehene Platz dafür befindet sich an der Innpromenade in Luftlinie zum bestehenden Mahnmal. Das neue Gedenkzeichen soll schließlich eine physische Installation mit einer digitalen Vermittlung verbinden. Die von den Tiroler Nazis durchgeführte „Oster-Aktion“ vom Frühjahr 1943 dürfte darin schließlich ebenfalls vorkommen, um weiter an die Geschichte von Mord und Vertreibung in Tirol zu erinnern.
tirol orf.at, 10.4.2023: Judenverfolgung in der „Oster-Aktion 1943
Downloads
Zuordnung
- Region/Bundesland
- Tirol