9./10. November: Pogrome gegen die jüdische Bevölkerung
Was geschah an diesem Tag?
Die Ermordung des deutschen Botschaftssekretärs in Paris, Ernst vom Rath, durch Herschel Grynszpan, einen jungen Juden, der wegen der Abschiebung seiner Eltern nach Polen verzweifelt war, wurde von den Nationalsozialisten zum Vorwand genommen, in der Nacht auf den 10. November 1938 einen Pogrom (= gewaltsame Ausschreitung gegen eine Minderheit) gegen Besitz, Synagogen (= jüdische Bethäuser) und Leben der jüdischen Mitbürger zu veranstalten. Reichspropagandaminister Joseph Goebbels sprach davon, dass diese Ausschreitungen ein »spontaner Ausbruch des Volkszorns« gewesen seien. Die von ihm geprägte Bezeichnung »Reichskristallnacht« sollte auf die vielen zersplitterten Glasscheiben von Synagogen und jüdischen Geschäften hinweisen. Wie viele österreichische Juden im Zuge dieser gewalttätigen Ausschreitungen von NS-Kommandos ums Leben gebracht wurden, ist bis heute nicht vollständig geklärt, auch nicht die Zahl jener, die auf dem Transport in ein KZ oder in den ersten Tagen in einem Lager starben. Viele Verzweifelte nahmen sich das Leben. Fast alle Synagogen und Bethäuser wurden in dieser Nacht zerstört, ca. 30.000 Juden wurden in Konzentrationslager verschleppt – aus Österreich kamen 3.755 (die meisten davon aus Wien) nach Dachau.
Der Terror der Pogromnacht war dazu gedacht, das jüdische Kulturleben auf dem Gebiet des Deutschen Reiches zu zerstören und die jüdischen Bürger nachhaltig zu verängstigen. Viele mussten ihren Besitz weit unter Wert an »arische« Interessenten verkaufen und flüchteten – sofern möglich – ins Ausland.
Die pogromartigen Ausschreitungen, die zahlreichen Erlässe gegen die jüdische Bevölkerung und der Ausschluss der österreichisch-jüdischen Bevölkerung aus allen Bereichen des öffentlichen Lebens wurden vom größten Teil der nichtjüdischen MitbürgerInnen nicht nur widerstandslos zur Kenntnis genommen, sondern von vielen aktiv mitgetragen.
Auch der Bruder des Zeitzeugen Richard Schoen wurde an diesem Tag ermordet. Interview: - link
Vom Mob erniedrigt: "Reibpartie" Wien 1938
"Zu den bemerkenswertesten Aufnahmen, die 2008 erstmals publiziert wurden, gehört ein Filmfragment, das heute im Österreichischen Filmmuseum aufbewahrt wird. Es zeigt einen jungen, gut bürgerlich gekleideten Mann, der am Boden kniet und die Straße wischt, entdeckt, dass er dabei gefilmt wird, kurz in die Kamera aufblickt, ehe er wiederum zu wischen beginnt und der anonyme Autor der Filmaufnahme eine zweite Person einfängt und schließlich für ein paar Augenblicke die Zuschauer ins Bild setzt, die lachend in die Kamera blicken. Mit einer Eindringlichkeit, die ihresgleichen sucht, rücken diese nicht länger als fünf Sekunden dauernden Bildfragmente ans Tageslicht, was sich in den ersten Stunden und Tagen nach der nationalsozialistischen Machtübernahme in einigen Straßen Wiens abspielte und was noch heute unter dem schrecklichen Begriff „Reibpartie“ bekannt ist, einem Begriff, der nicht nur ein Zeichen für die Verwahrlosung der Sprache jener Zeit ist, sondern die ganze Niedertracht und Perfidie der Handlungen zum Ausdruck bringt, die sich hinter ihm verbergen. „Reibpartien“, so nannte man die Ausschreitungen, die der nationalsozialistische Mob sofort nach dem „Anschluss“ gegen die Juden in Wien beging (und in den ersten Tagen auch gegen einige Vertreter des „alten“ ständestaatlichen Regimes). Zum Gaudium der aktiv sich beteiligenden Zuseher wurden im März 1938 Juden gezwungen, mit einer ätzenden Lauge Wiens Straßen zu „reinigen“, Plakatwände, Litfaßsäulen und Schaufenster von Parolen für die von Kurt Schuschnigg, Bundeskanzler des autoritären Ständestaates, geplante Volksbefragung über die Selbständigkeit Österreichs am 13. März 1938 zu säubern, Geschäfte und Auslagen von jüdischen Besitzern zu beschmieren und dergleichen mehr."
Aus: Hans Petschar, Bekannt und unbekannt: Fotografische Ikonen zum „Anschluss“ Österreichs an das Dritte Reich. Vortrag gehalten bei den 3. Strobler Schulbuchgesprächen. - link (defekt)
Vgl. Hans Petschar: Anschluss. „Ich hole Euch heim“. Der „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich. Fotografie und Wochenschau im Dienst der NS-Propaganda. Eine Bildchronologie.- Wien: Brandstätter 2008
Doch was passierte in den Bundesländern?
Damit nicht nur die Ereignisse in den großen Städten in Erinnerung bleiben, möchten wir Geschichten der Verfolgung aus allen Bundesländern aufzeigen und in Erinnerung halten. Die folgenden Berichte zu den Novemberpogromen stammen Großteils aus unseren Sachbüchern „Nationalsozialismus in den Bundesländern“.
Quellen, historischer Überblick und Unterrichtsmaterialien
Unterrichtsmaterial: Modul 1938_"Anschluss" und Novemberpogrom aus "Das Vermächtnis. Verfolgung, Vertreibung und Widerstand im Nationalsozialismus." - download ORF Programmschwerpunkt zu den Ereignisse um den 9./10. November 1938: - link
In der Lern-App "Fliehen vor dem Holocaust" begegnen Jugendliche Lebensgeschichten von Holocaust-Überlebenden, die auch von ihren Erfahrungen des "Anschlusses" und Novemberpogroms berichten - wie beispielsweise der Zeitzeuge Hellmut Stern - link
Auf der deutschen I-Witness-Website «LEBENSGESCHICHTEN» begegnen NutzerInnen videografierten ZeitzeugInnen und kommen mit deren Erinnerungen und Geschichten in Kontakt. - link
Demokratiezentrum Wien - 9. November - Novemberpogrome: - link (defekt)
1938: Auftakt zur Shoah in Österreich. Orte – Bilder – Erinnerungen. Publikation zum März 1938 - link
App zu den Opfern und Schauplätzen des Novemberpogroms in Innsbruck - link
Ausstellung: Orte des Novemberpogroms 1938 in Innsbruck - link
Das Pogromdenkmal in Innsbruck - Geschichte des Pogroms und das Denkmal auf dem Eduard-Wallnöfer-Platz: - link
Unterrichtsmaterial CENTROPA: - link (defekt)
Remembering Kristallnacht: - link
A video compilation created through a joint partnership between the United States Holocaust Memorial Museum and the USC Shoah Foundation Institute with footage from the Institutes's archive.
Materialsammlung (Landeszentrale Politische Bildung Baden-Württemberg): Die Nacht als die Synagogen brannten - link
Parlament der Republik Österreich: Gedenken "75 Jahre Novemberpogrom": - link
DÖW: Das Novemberpogrom in der Dauerausstellung: link - Quellensammlung und Fotos: -link
Wien Wiki: Das Novemberpogrom: -link
Augenzeugenberichte
TEXT
Ernst Benedikt, ehemaliger Eigentümer und Chefredakteur der „Presse“ (damals „Neue Freie Presse“), schreibt darüber, wie er am 10. November festgenommen und tagelang mit Nahrungsentzug und „Leibesübungen“ gequält wurde. Text im Dokumentationsarchiv des Österreichischen Widerstands - lesen
VIDEO
Ingeborg Guttmann - geb. 1930 in Wien, kann mit ihren Eltern nach Shanghai fliehen. 1947 kehrt die Familie – nicht ganz freiwillig – nach Österreich zurück.
Ausschnitt: "Novemberpogrom in Wien"
George Kovacs, geb. 1926 in Wien, kann 1938 mit einem Kindertransport nach England fliehen. Auch der Mutter und dem Stiefvater gelingt die Flucht.
Ausschnitt: "Novemberpogrom in Wien" - Bild anklicken
Richard Schoen, geb. 1914 in Groß-Siegharts, gest. 2013 in Pompton Plains (New Jersey, USA) wird 1938 im KZ Dachau interniert. Nach der Entlassung flieht er nach England, später in die USA. Seine Eltern und Geschwister werden von den Nazis ermordet.
Ausschnitt: "Die Ermordung des Bruders"
Ausschnitte aus: Das Vermächtnis. Verfolgung, Vertreibung und Widerstand im Nationalsozialismus. DVD 1: Videos. DVD 2: Lehr- und Lernmaterial - Bestellungen
AUDIO
Hörspuren: Audio-Guides, Wien 1938
Hörspuren ist ein Projekt, das sich auf innovative Weise mit der Geschichte und ausgewählten Schauplätzen des Jahres 1938 auseinander setzt. Mehr dazu - hier
Hörmal. Überlebensgeschichten 1938-2008. ZeitzeugInnen berichten über den Novemberpogrom in Graz. Mehr dazu - link