Antisemitismusbericht 2020: Neuerlicher Anstieg von antisemitischen Vorfällen in Österreich
Seit Beginn der Dokumentation antisemitischer Vorfälle durch die IKG vor 19 Jahren wurden in keinem Jahr so viele Vorfälle erfasst wie im Jahr 2020: Insgesamt 585 antisemitische Vorfälle meldet der am 26.04.2021 erschienene Bericht der IKG. Dies seien „um 585 antisemitische Vorfälle zu viel“, betont der Präsident der Israelitischen Kulturgemeinde Wien Oskar Deutsch. Mit durchschnittlich 49 gemeldeten Vorfällen im Monat stiegen die Meldungen im Vergleich zum Vorjahr um 6,4 Prozent – der IKG Generalsekretär Benjamin Nägele spricht nennt dies einen neuen „Negativrekord“.
Erscheinungsformen und Motive der antisemitischen Vorfälle
Die am häufigsten auftretende Form der 585 gemeldeten antisemitistischer Vorfälle ist dem Bericht zufolge verletzendes Verhalten (364 Fälle). Mit 135 Fällen folgen Massenzuschriften wie beispielsweise Facebook-Beiträge – folgende antisemitistische Kommentare zum selben Beitrag wurden hier jedoch nur als ein Vorfall gewertet. Weitere Erscheinungsformen waren Sachbeschädigungen (53 Fälle), Bedrohungen (22 Fälle) und physische Angriffe (11 Fälle).
Der Bericht liefert Infos zur Methodik der Erhebung, zur grundlegenden Arbeitsdefinition von Antisemitismus und zur Kategorisierung der Fälle. Um eine internationale Vergleichbarkeit zu ermöglichen, ordnen die VerfasserInnen des Berichts die Vorfälle ideologisch zu. Während 2019 fast bei der Hälfte der Fälle keine Zuordnung möglich war, gilt dies 2020 nur für ein Drittel der Fälle. Mit 39 Prozent (229 Vorfällen) waren die meisten gemeldeten Vorfälle rechtsextrem motiviert.
Zusammenhänge mit der Pandemie
Nach einigen schweren antisemitischen Vorfällen, wie der Angriff auf den Präsidenten der Jüdischen Gemeinde Graz im August oder der Angriff auf einen Rabbiner im November in Wien, erklärt die IKG das Jahr als eines im Zeichen der Gewalt. Es sei jedoch auch ein Jahr im Zeichen der Pandemie, was sich ebenso stark in den registrierten antisemitischen Vorfällen wiederfinde: Im Zuge der Proteste gegen die Corona-Maßnahmen der Bundesregierung sei ein starker Anstieg antisemitistischer Vorfälle zu erkennen, die sich besonders in Fällen von Shoah-Relativierung und der Verbreitung von antisemitischen Verschwörungsmythen niederschlug. Aufgrund dessen führt der diesjährige Bericht auch weitere Subkategorien der Vorfälle mit Coronabezug an; neben Verschwörungsmythen und Shoah-Relativierung/-Leugnung wird dabei erstmals auch die Subkategorie „Israelbezogener Antisemitismus“ ausgewertet.
Kein Abbild aller antisemitischen Vorfälle in Österreich
Was es angesichts des neuen Berichtes zu Bedenken gilt, ist, dass dieser nur jene antisemitischen Vorfälle in die Statistik einbeziehen kann, die auch gemeldet wurden und gemäß der IHRA Definition als eindeutig antisemitistisch eingeordnet werden konnten. Auch der Generalsekretär der IKG, Benjamin Nägele betont, dass man von einer hohen Dunkelziffer nicht gemeldeter Fälle ausgehen müsse. Katharina von Schnurbein, die Beauftrage der EU-Kommission zur Bekämpfung von Antisemitismus und Förderung jüdischen Lebens, führt dazu eine Umfrage der EU-Grundrechteagentur an: Der zufolge werden in Österreich 71% der antisemitischen Vorfälle nicht gemeldet.
„Antisemitismus ist ein Angriff auf die Menschenrechte – kein Vorfall ist zu unwichtig, als dass er nicht gemeldet werden sollte. Das gilt übrigens auch für Vorfälle, die sich online ereignen.“ – Katharina Schnurbein im Antisemitismus-Bericht der IKG.
Der neue Bericht ist also als Bestandsaufnahme zu sehen, die der Entwicklung und Verbesserung von Maßnahmen gegen Antisemitismus als Grundlage dienen kann – eine Aufgabe die sich auch _erinnern.at_ als Akteur der Bildungsarbeit verschrieben hat.
Prävention von Antisemitismus durch Bildung
Die Prävention von Antisemitismus durch Bildung, insbesondere durch den Geschichtsunterricht, sowie die Unterstützung von Lehrpersonen bei dieser Aufgabe, ist eine der Kernaufgaben von _erinnern.at_. Erarbeitet werden Empfehlungen, Lernmaterialien und Hilfestellungen für den Unterricht, welche möglichst gut den Bedürfnissen der Lehrpersonen und der Schulen entsprechen sollen.
Ein besonderer Fokus liegt dabei auf der sogenannten sekundären Antisemitismusprävention. Diese zielt darauf ab, pädagogische Angebote zu schaffen, wenn es im Unterricht oder im schulischen Umfeld zu antisemitischen Artikulationen bzw. Vorfällen gekommen ist. Als eines der Ergebnisse wurde kürzlich eine Sammlung empfohlener Lernmaterialien mit konkreten Hilfestellungen, wie LehrerInnen auf gegenwärtige Formen und Formulierungen des Antisemitismus mittels antisemitismuskritischer Bildungsarbeit reagieren können, präsentiert: Link
Im April 2021 startete nun ein von der EU finanziertes Projekt, durch das ein präventiver und für alle Beteiligten hilfreicher Umgang mit Antisemitismus bzw. antisemitischen Äußerungen und Angriffen in Schulen gestärkt werden soll. Das zwischen April 2021 und September 2022 laufende Projekt ist Bestandteil der Nationale Strategie gegen Antisemitismus und wird in einer Kooperation von _erinnern.at_ und der Abteilung I/1 des BMBWF verwirklicht: Link