Handlungsempfehlungen zum Umgang mit Antisemitismen an Schulen und Hochschulen – IHRA beschloss 2022 die von ERINNERN:AT mitentwickelten Empfehlungen und legt sie den Mitgliedstaaten zur Umsetzung nahe

Gemeinsam mit dem Institut für Geschichtsdidaktik und Erinnerungskulturen der Pädagogischen Hochschule Luzern und der Geschäftsstelle des Beauftragten der Bayerischen Staatsregierung für jüdisches Leben und gegen Antisemitismus wurde im Projekt „Gegen Antisemitismus in Schulen und Hochschulen“ untersucht, wie Lehrpersonen in der Aus- und Weiterbildung beim Unterrichten gegen Antisemitismus und Holocaust Distortion unterstützt werden können.

In deutschsprachigen Ländern sind Lehrende an Schulen und Hochschulen zunehmend mit Antisemitismus konfrontiert. Nicht selten geht dies einher mit der Verzerrung (Distortion) oder gar Leugnung des Holocaust, mit Verschwörungstheorien sowie mit verschiedenen Formen Gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit. Eine wichtige Voraussetzung, um mit diesen gesellschaftlichen und unterrichtlichen Herausforderungen angemessen umzugehen, sind qualifizierte Lehrpersonen, die über spezifisches Fachwissen, reflektierte Überzeugungen und über eine stabile motivationale Orientierung verfügen. Um die Hochschulen, die LehrerInnen aus- und weiterbilden, sowie die LehrerInnen in ihrer Alltagsarbeit bei dieser spezifischen Aufgabe zu unterstützen, haben sich das OeAD-Programm ERINNERN:AT , das Institut für Geschichtsdidaktik und Erinnerungskulturen der Pädagogischen Hochschule Luzern und die Geschäftsstelle des Beauftragten der Bayerischen Staatsregierung für jüdisches Leben und gegen Antisemitismus 2020 für ein Forschungsprojekt zusammengeschlossen. Vor dem Hintergrund der Nationalen Strategie gegen Antisemitismus und gefördert von der  International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA), zielte es darauf ab, Empfehlungen und Handlungsrichtlinien auszuarbeiten und deren Umsetzung zu unterstützen.

 

Methoden

Gemeinsam mit ExpertInnen unterschiedlicher Fachrichtungen wurde erkundet und definiert, in welchen Fächern, in welchen curricularen Zusammenhängen und in welchem Lernalter methodisch und didaktisch angemessen gegen Antisemitismus präventiv, aktiv und intervenierend unterrichtet und gebildet werden kann und wie Lehrpersonen in der Aus- und Weiterbildung am besten darauf vorbereitet werden können.

Als Vorgehensweise ist u.a. eine modifizierte Delphi-Methode, d.h. ein systematisches, mehrstufiges Befragungsverfahren von ExpertInnen verschiedenster Disziplinen, gewählt worden. Im Zentrum der Befragungen standen u.a. folgende Fragen:

  • Welches berufliche Wissen sollten Lehrpersonen in der Grundausbildung erwerben, um gegen Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit im Allgemeinen und Holocaust-Verzerrung sowie Antisemitismus im Besonderen unterrichten zu können? Was wären Qualitätskriterien einer antisemitismuskritischen Pädagogik (Vermittlungsformen, Unterrichtsmaterialien)?
  • Welche Bereiche der LehrerInnenausbildung müssen in Betracht gezogen und ggf. modifiziert oder entwickelt werden (Lehrbücher, Lehrpläne; berufsbegleitende Lehrerausbildungsprogramme), um Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit im Allgemeinen und Holocaust-Verzerrung sowie Antisemitismus im Besonderen zu erkennen und zu verhindern?

 

Handlungsempfehlungen

Die Handlungsempfehlungen verweisen auf Möglichkeiten der Prävention und Intervention, welche sowohl in die Weiterentwicklung von Lehrveranstaltungen wie auch von Curricula einfließen können sowie die jeweilige Institution in ihrer Gesamtheit einbeziehen. Auch können sie als Leitfaden dienen, der die Institutionen bei der Evaluierung der Maßnahmen und ihrer Implementierung unterstützt. Es werden nicht nur die Vermittlung von Fachwissen und Kompetenzen, sondern auch das Reflexionsvermögen und die Auseinandersetzung mit berufsbezogenen Überzeugungen und professionellem Handeln thematisiert.

Hochschulen, die ein Studium für Lehrdiplom bzw. Lehramt anbieten, wird empfohlen,

  • erstens in allen Studiengängen bzw. in den jeweiligen Lehramtsstudien für künftige LehrerInnen ein Grund-, Erweiterungs- und Vertiefungsangebot in der Lehre zum Umgang mit Antisemitismus zu gewährleisten,

  • zweitens die berufsethischen Erwartungen an Studierende offen zu kommunizieren,

  • drittens auf Ebene der Hochschule ein Case-Management anzubieten, um bei Antisemitismus und anderen diskriminierenden Vorfällen prozessgeleitet und schnell (re)agieren zu können,

  • viertens eine Ansprechperson zu bezeichnen, die hochschulintern im Umgang mit Antisemitismus beraten und unterstützen kann.

 

Publikation: „Antisemitismen - Sondierungen im Bildungsbereich“

Ergebnis des Projekts ist eine gemeinsame Publikation, in der die ExpertInnen-Interviews, Thesen und Handlungsempfehlungen veröffentlicht wurden: „Antisemitismen – Sondierungen im Bildungsbereich“ (Wochenschau Verlag, 2022, verfügbar auch als open access). Die HerausgeberInnen Victoria Kumar, Werner Dreier, Peter Gautschi, Nicole Riedweg, Linda Sauer und Robert Sigel skizzieren zunächst Ursprünge und Formen von Antisemitismus in Geschichte und Gegenwart. Auf Möglichkeiten der strafrechtlichen Sanktionierung folgt ein einführender Text zu Antisemitismen im Bildungsbereich. Während bisherige Studien vor allem Schulen in den Blick genommen haben, fokussiert das Projektteam auf Institutionen der LehrerInnenbildung. Die acht Fragen zielen auf persönliche Erfahrungen der Interviewten, auf Kontexte und Konzepte der Auseinandersetzung mit Antisemitismus „an Schulen, Hochschulen und in der Öffentlichkeit“, auf Präventions- und Interventionsmöglichkeiten und auf die Lehrkräftebildung. Eine letzte schließt mit einem persönlichen Ausblick in die Zukunft. Die Fragen wurden von 23 ExpertInnen unterschiedlichster Fachdisziplinen und Berufsbiografien beantwortet: Geschichtswissenschaft und -didaktik, Erziehungswissenschaft, Soziologie, Psychologie, Religionspädagogik etc.

 

Maßnahmen zur Umsetzung der Nationalen Strategie gegen Antisemitismus

Die Handlungsempfehlungen für den Umgang der Hochschulen mit Antisemitismen waren unter anderem auch eine Grundlage für das Strategiepapier „Prävention von Antisemitismus durch Bildung. Empfehlungen zur Umsetzung der nationalen Strategie gegen Antisemitismus für die österreichische Bildungsverwaltung und Einrichtungen der Lehrpersonenbildung“, das im Rahmen eines Fachtages am 21. September 2022 vom Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung und ERINNERN:AT präsentiert wurde. 10 von 38 Maßnahmen, die in der im Jänner 2021 von der österreichischen Bundesregierung verabschiedeten Nationalen Strategie zur Bekämpfung von Antisemitismus festgeschrieben sind, betreffen die Bereiche Bildung, Wissenschaft und Forschung. Das Papier bündelt Vorschläge und Empfehlungen für die Bildungsverwaltung, für die Lehrpersonenaus- und weiterbildung, und für die Unterstützung von Betroffenen im Falle antisemitischer Vorfälle.

Bei der Präsentation haben referierende ExpertInnen von einem „window of opportunity“ gesprochen, weil die aktuellen Empfehlungen zeitnah in den Überarbeitungen von Ausbildungscurricula berücksichtigt werden könnten. Noch im Herbst 2022 hat der Qualitätssicherungsrat für die Pädagoginnen- und Pädagogenbildung in Österreich sowie das BMBWF alle Curricula und Modulpläne der österreichischen LehrerInnen-Bildung quantitativ analysieren lassen, damit erste Erkenntnisse in die geplante Überarbeitung der Curricula 2023 einfliessen können. Auch diese Ergebnisse liegen nun vor.

 

Internationale Resonanz

Die Handlungsempfehlungen zum Umgang mit Antisemitismus an Schulen und Hochschulen, bei denen die curriculare Verankerung von Wissen über Antisemitismus und den kontextspezifischen Umgang mit ihm in der Lehrkräfte-Ausbildung besonders betont wird, sind bei der IHRA-Plenarsitzung 2022 in Göteborg vorgestellt und den Mitgliedstaaten zur Verbreitung und Umsetzung empfohlen worden („endorsed“).

 

Projektpartner

Das Institut für Geschichtsdidaktik und Erinnerungskulturen der Pädagogischen Hochschule Luzern erforscht den Umgang von Menschen mit dem Universum des Historischen. Es verfolgt das Ziel, Interesse für Vergangenheit zu wecken und das aufgeklärte Lernen aus der Geschichte für die Gegenwart und die Zukunft zu ermöglichen. Eine besondere Stärke des Instituts ist der erfolgreich umgesetzte zirkuläre Prozess von Forschung, Theorie und Praxis zum Beispiel zum Umgang mit Holocaust.

Die Geschäftsstelle des Beauftragten der Bayerischen Staatsregierung für jüdisches Leben und gegen Antisemitismus wurde im Frühjahr 2018 eingerichtet und hat seither neben der Zusammenarbeit mit den jüdischen Einrichtungen die Erwachsenenbildung und vor allem die schulische Bildung als einen wesentlichen Bereich präventiven und intervenierenden Handelns definiert. In einem von ihr initiierten Arbeitskreis der Kultusministerkonferenz und in der Kooperation mit den übrigen Beauftragten gegen Antisemitismus in Deutschland reicht ihre Tätigkeit über Bayern hinaus.

Links:

Zur Buchbestellung und zum kostenlosen PDF-Download: - Link

Zum Strategiepapier „Prävention von Antisemitismus durch Bildung“: - Link

Nachlese auf der IHRA-Website: - Link

Rezensionen:

Gerald Lamprecht in: H-Soz-Kult, 16.02.2023, <www.hsozkult.de/publicationreview/id/reb-117107>

Christoph Huber in: Einsichten & Perspektiven. Bayerische Zeitschrift für Politik und Geschichte, 03/33, ep_3-22_web-1028-0903-26.pdf (bayern.de)

Bernadette Edtmaier in: Chilufim. Zeitschrift für Jüdische Kulturgeschichte, 29/22. - Link