Der nationalsozialistische Genozid an den europäischen Roma und Sinti
Registrierung, Diskriminierung und Verfolgung
In der Zwischenkriegszeit führten wirtschaftliche Krisen und steigende soziale Spannungen in den meisten europäischen Ländern zu einer zunehmenden Diskriminierung der Roma und Sinti. Mehr und mehr begannen regionale und lokale Behörden die einheimische Roma- und Sinti-Bevölkerung in so genannten „Zigeunerregistern“ zu erfassen und spezielle Ausweiskarten auszugeben, die diese immer bei sich tragen mussten. In manchen Ländern wurden auch so genannte „Zigeuner“-Gesetze erlassen, die sowohl das Alltagsleben als auch die Ausübung vieler traditioneller Berufe der Roma und Sinti zunehmend einschränkten.
Die Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland im Jahr 1933 hatte für Romnja und Roma, Sintizze und Sinti schwerwiegende Folgen. Die so genannten „Nürnberger Gesetze“ von 1935, die als antisemitische Maßnahmen konzipiert worden waren, erfassten nun alle Bereiche des öffentlichen Lebens. Diese rassistischen Bestimmungen wurden auch auf Roma und Sinti angewandt.
„Rasseforschung“ und „Vorbeugende Verbrechensbekämpfung“
1936 begann die „Rassenhygienische und Bevölkerungsbiologische Forschungsstelle im „Reichsgesundheitsamt“ in Berlin - später in Zusammenarbeit mit dem Institut für Kriminalbiologie - ein „Rasseforschungsprojekt“ über Sinti und Roma in Deutschland, Österreich sowie den Gebieten der heutigen Tschechischen Republik. Es wurden große Stammbäume einzelner Roma und Sinti Familien erstellt, die oft über mehr als hundert Jahre zurückgingen. Sie maßen und fotografierten Körperteile und registrierten die Blutgruppen sowie die Haar- und Augenfarbe der betroffenen Personen.
Die Nationalsozialisten setzten eine ganze Reihe von Gesetzen und Verordnungen in Kraft, die Roma und Sinti als „geborene Verbrecher“ brandmarkten. Im Rahmen der so genannten „vorbeugenden Verbrechensbekämpfung“ verhafteten die Nationalsozialisten also nicht nur jene, die wirklich ein Verbrechen nach ihrem Rechtsverständnis begangen hatten, sondern auch alle, die ihrer Meinung nach irgendwann eines begehen könnten, denn dies sei ein Teil ihres biologischen Erbes.
Enteignung und Deportationen
Deportationen einzelner Gruppen von Roma und Sinti in Konzentrationslager begannen in Deutschland bereits 1938. Ein Jahr später folgten Massendeportationen auch im „angeschlossenen“ Österreich nach Dachau, Buchenwald und Ravensbrück 1939; Tausende österreichischer Roma und Sinti wurden in Konzentrationslager oder Zwangsarbeitslager in der Nähe großer öffentlicher Bauvorhaben (wie etwa beim Bau von Autobahnen, Staudämmen oder Kraftwerken) verschleppt, um als Zwangsarbeiter eingesetzt zu werden. Jede Deportation arbeitsfähiger Männer und Frauen ließ mehr und mehr unversorgt zurückgebliebene Familienmitglieder der örtlichen Armenfürsorge anheimfallen – und die Lokalbehörden immer mehr Deportationen fordern. In den Konzentrationslagern wurden die Häftlinge von der SS mittels Kennzeichnung mit verschiedenfarbigen Dreiecken in unterschiedliche Kategorien eingeteilt. In der Regel wurden Roma und Sinti mit dem schwarzen Winkel für so genannte „asoziale“ Häftlinge gekennzeichnet. In manchen Lagern gab es eine eigene Häftlingskategorie für „Zigeuner“ mit einem braunen Winkel.
Auflistung deportierter Roma aus der Gemeinde Spitzzicken/Hrvatski Cikljin im Burgenland/ Österreich.
Privatbesitz Gerhard Baumgartner, Wien/Österreich.
„Zigeunerlager“ und Vernichtungslager
Das „Zigeunerlager“ Lackenbach im Bezirk Oberpullendorf wurde von mehreren Kreisverwaltungen des Gaues Niederdonau sowie der Wiener Stadtverwaltung eingerichtet. Zeitweise lebten bis zu 2.000 Menschen unter unerträglichen Umständen im Lager. Die Lagerinsassen wurden regelmäßig als Zwangsarbeiter an lokale Firmen und landwirtschaftliche Betriebe verliehen und für öffentliche Bauten herangezogen. 273 Menschen starben im Lager selbst. 1941 wurden von den insgesamt 4.000 Häftlingen 2.000 nach Łódź verschleppt. Als dort im Dezember 1941 eine Typhusepidemie ausbrach, wurden 4.600 Roma in „Vergasungswagen“ getötet, die sie nach Chełmno/Kulmhof transportierten. Nur zehn Wochen, nachdem sie in Łódź angekommen waren, waren alle 5.007 österreichischen Roma und Sinti tot. 4.400 von ihnen liegen in unmarkierten Massengräbern im Wald von Chełmno, zusammen mit 150.000 Juden und Tausenden sowjetischen Kriegsgefangenen.
Die meisten der übrigen Lagerinsassen von Lackenbach wurden 1943 nach Auschwitz-Birkenau deportiert. Das Auschwitz-Dekret Heinrich Himmlers vom 16. Dezember 1942 verfügte die Deportation aller noch im Deutschen Reich lebenden „Zigeuner“ nach Auschwitz-Birkenau. Dieser Befehl markiert die letzte Phase eines Plans zur Vernichtung der „Zigeuner“. Die Massendeportationen deutscher, österreichischer und tschechischer Roma und Sinti nach Auschwitz-Birkenau begannen im April 1943. Mehr als 20.000 Roma und Sinti wurden in 32 Holzbaracken im „Zigeunerfamilienlager“ in Auschwitz zusammengepfercht. Bis zum Juni 1944 waren 70 Prozent von ihnen bereits gestorben. Während die noch Arbeitsfähigen in andere Konzentrationslager überstellt wurden, wurden die zurückgeblieben 2.879 Gefangenen in der Nacht des 2. August 1944 vergast.
Das Gedenken an dieses tragische Ereignis wurde zu einer der bedeutendsten öffentlichen Gedenkveranstaltungen der europäischen Roma Kultur der Nachkriegszeit. Alljährlich versammeln sich Sinti und Roma aus ganz Europa zu dieser gemeinsamen Gedenkfeier auf dem Gelände des ehemaligen „Zigeunerlagers“ in Auschwitz-Birkenau.
Die Überlebenden
Die Überlebenden der Konzentrationslager waren meist junge Menschen im Alter zwischen 20 und 30 Jahren. Kleine Kinder und ältere Menschen hatten in der Regel unter den brutalen Bedingungen keine Chance zu überleben. Die meisten Überlebenden blieben ihr Leben lang gezeichnet von ihrem Schicksal und ihren Erfahrungen. Für viele Jahrzehnte nach dem Krieg wurden Roma und Sinti jedoch nicht als Opfer rassistischer Verfolgung anerkannt. Die meisten der überlebenden Roma und Sinti mussten Jahrzehnte warten, bevor ihnen Entschädigungszahlungen - für die Haft in den Lagern, für ihre dauerhaften Gesundheitsschäden und für ihr geraubtes Eigentum - zuerkannt wurden. Den meisten blieb eine Entschädigung verweigert - vor allem für ihre Häuser. Viele Roma Siedlungen waren im 19. Jahrhundert auf öffentlichem Grund entstanden und in der Regel wussten die Roma nicht, dass sie ihre Häuser im Grundbuch registrieren sollten. Nach dem Krieg verfügte der Großteil der Überlebenden daher über keinerlei Besitznachweise für ihre Häuser. In den meisten Fällen konnten sie nicht einmal belegen, dass ihre Häuser jemals existiert hatten.
Literaturempfehlungen
- Baumgartner, Gerhard / Brettl, Herbert (2020): „Einfach weg! Verschwundene Romasiedlungen im Burgenland. new academic press, Wien, Hamburg.
- Pohl, Dieter. Gebhardt (2022): Handbuch der deutschen Geschichte. Band 20. Nationalsozialistische Verbrechen 1939-1945 © 2022 Klett-Cotta – J. G. Cotta’sche Buchhandlung Nachfolger GmbH, Stuttgart.
- Baumgartner, Gerhard / Freund, Florian / Greifeneder, Harald (2004): Vermögensentzug, Restitution und Entschädigung der Roma und Sinti. München.
- Kropf, Rudolf / Polster, Gert (Hg.) (2016): Roma und Sinti von 1938 bis zur Gegenwart. Tagungsband Schlaininger Gespräche 2015. Wissenschaftliche Arbeiten aus dem Burgenland (WAB) Band 158, Eisenstadt.
- Reuter, Frank (2014): Der Bann des Fremden. Die fotografische Konstruktion des Zigeuners, Göttingen.
- Online-Enzyklopädie des NS-Völkermordes an den Sinti und Roma in Europa: Die Enzyklopädie entsteht seit Juli 2020 an der Forschungsstelle Antiziganismus am Historischen Seminar der Universität Heidelberg und wird laufend erweitert. Sie bietet einen umfassenden Überblick über das vorhandene Wissen zur Verfolgung und Ermordung der Roma und Sinti während Nationalsozialismus und Zweitem Weltkrieg. Mehr als 90 AutorInnen aus 25 Ländern (Stand: März 2024) wirken daran mit. Der Inhalt kann nach dem Alphabet durchsucht oder über Rubriken thematische Schwerpunkte erschlossen werden.
Über die Geschichte der europäischen Roma und Sinti bis 1938 ist hier zu lesen: Link
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