Holocaust Education in der Primarstufe - Bericht zur zweiten Innsbrucker Tagung
Am 20. und 21. April 2023 fand die zweite Innsbrucker Tagung zur Vermittlung von Nationalsozialismus und Holocaust in der Primarstufe mit dem Schwerpunkt „Perspektiven aus der schulischen und außerschulischen Praxis“ statt. Die Pädagogische Hochschule Tirol richtete die Veranstaltung in Kooperation mit dem OeAD-Programm ERINNERN:AT, der International School for Holocaust Studies in Yad Vashem und dem Beauftragten der Bayerischen Staatsregierung für jüdisches Leben und gegen Antisemitismus, für Erinnerungsarbeit und geschichtliches Erbe aus.
Der Fokus der Tagung lag auf praxisrelevanten Perspektiven. Siewidmete sich den Leerstellen der Ausbildungs- und Fortbildungsangebote für Lehrpersonen sowie konkreten Materialien zur Auseinandersetzung mit der Thematik im Grundschulunterricht. Expertinnen und Experten aus der DACH-Region und Israel brachten im Rahmen von Impulsreferaten, Workshops und einer moderierten Gesprächsrunde ihre Erfahrungen und Expertise ein. Die Impulsreferate thematisierten pädagogische Konzepte aus theoretischer Perspektive, das Wissen von Kindern in der Primarstufe über den Holocaust und die Zeit des Nationalsozialismus und davon abgeleitete Konsequenzen für die Fachdidaktik und die Unterrichtspraxis.
In der Keynote des ersten Tages stellte Nao Mkayton das pädagogische Konzept der International School for Holocaust Studies in Yad Vashem vor. Jüngeren Kindern soll die Thematik über authentische Biografien nähergebracht werden. Deren Lebensläufe müssen in den historischen Gesamtkontext eingebettet sein. Es muss sich dabei um Menschen handeln, die die Shoah überlebt haben. Vernichtung und Gräuel der Lager sollen ausgespart werden, ohne aber die Gesamtdimension des Genozids an Jüdinnen und Juden zu verharmlosen oder zu relativieren. Die Vermittlung von Momenten der Hoffnung und von positiven Aspekten ist von Bedeutung. Die Kinder sollen Empfindungen der dargestellten Personen kognitiv nachvollziehen, nicht jedoch emotional. In diesem Alter müsse eine gewisse Distanz gewahrt bleiben, betonte Mkayton.
Noa Mkayton (Yad Vashem) während ihres Vortrags: Holocaust Education mit Kindern – Das pädagogische Konzept der Internationalen Schule für Holocaust-Studien (Foto: PH Tirol / Chrisine Roner).
Die darauffolgenden Workshop-Phasen boten drei Angebote der schulischen Vermittlung mit regional-historischem Bezug, sowohl digital als auch analog.
Die Volkschullehrerinnen Johanna Kollreider-Schäfer und Karin Villgrattner stellten mit Christian Mathies von der Pädagogischen Hochschule Tirol neue Lernmaterialien für Tiroler Volksschulen vor. Ein Unterrichtsfilm schildert das Leben von Dorli Pasch (Neale). Sie wuchs in Innsbruck auf und musste nach dem Novemberpogrom 1938 nach London fliehen, dies gelang ihr in einem Kindertransport. Der Film arbeitet mit Interviewpassagen, Originalfotos und Zeichnungen. Die Broschüre zum Film liefert Hintergrundwissen für Lehrpersonen und schlägt Möglichkeiten des Einsatzes im Unterricht vor.
Die Fluchtgeschichte von Ilse Mass, die im Buch „Weg von hier…“ beschrieben ist, präsentierten Gertraud Hoheneder und Sharon Stamberger. Das Buch erzählt von Ilses Kindheit in Linz, die dramatischen Veränderungen ihrer Lebensumstände nach der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten, ihre Flucht nach Shanghai ins Exil und ihre spätere Emigration nach Israel. Die beiden Volkschullehrerinnen gaben praktische Beispiele und Ideen als Impulse für den Unterricht.
Veronika Nahm vom Anne Frank Zentrum in Berlin stellte in ihrem Workshop das Lernmaterial „Nicht in die Schultüte gelegt – Schicksale jüdischer Kinder 1933–1942 in Berlin“ vor. Es beinhaltet Biografien von Kindern, die alle in Berlin eingeschult worden sind. Thema ist die Ausgrenzung junger Jüdinnen und Juden im Nationalsozialismus. Idealerweise wird das Material in einer Lernwerkstatt angeboten, es ist aber je nach Lernziel und Zeitrahmen auch möglich, nur mit Teilen davon zu arbeiten.
Die Zeitzeugin Marion Fischer im Gespräch mit Horst Schreiber (OeAD, ERINNERN:AT Tirol) (Foto: PH Tirol / Christine Roner).
Der erste Tag endete mit dem Zeitzeuginnengespräch „Nicht lebensfroh - überlebensfroh!“. Die Innsbrucker Holocaust-Überlebende Marion Fischer schilderte im Gespräch mit Horst Schreiber, dem Netzwerkleiter von ERINNERN:AT Tirol, ihre Fluchterfahrungen als Kleinkind. Sie war mit ihrer Familie in mehreren Lagern im faschistischen Italien interniert, bis den Eltern, dem Bruder und ihr die Flucht in die Schweiz glückte. Marion Fischer besucht seit vielen Jahren Schulen, um ihre Geschichte zu erzählen. Vor kurzem war sie mit Irmgard Bibermann zum ersten Mal in einer Volksschule zu Gast – auch für sie eine sehr wertvolle Erfahrung, wie sie betonte. Die Kinder habe das Thema interessiert und sie stellten kluge, erfrischende und einfühlsame Fragen, erzählte Frau Fischer. Für sie ist die Zeitzeuginnenschaft ein Zeichen der Dankbarkeit, mit ihrer Familie überlebt zu haben.
Einen Überblick über die aktuelle Forschungslage von Wissen über und Umgangsweisen mit Nationalsozialismus und Holocaust bei Kindern gab Alexandra Flügel von der Universität Siegen am zweiten Tag der Tagung. Volksschulkinder verfügen bereits über Wissen zum Holocaust und Nationalsozialismus, sie haben Interesse und wollen das Thema in der Schule behandelt wissen.
In der darauffolgenden Gesprächsrunde hob Flügel hervor, dass viele Lehrpersonen bei der Behandlung des Themas oft unsicher seien. Sie befürchteten, mehr falsch als richtig zu machen. Es reiche nicht aus, Nationalsozialismus und Holocaust auf freiwilliger Basis zu unterrichten. Nötig sei eine Professionalisierung unter Bereitstellung institutioneller Rahmenbedingungen, wie alle Diskutantinnen und Diskutanten betonten. Philipp Mittnik von der Pädagogischen Hochschule Wien forderte eine Verankerung des Themas Nationalsozialismus in der Ausbildung der Volksschullehrpersonen und strich dabei die bedeutende Rolle des Bildungsministeriums hervor. Dem schloss sich Christian Mathis von der Pädagogischen Hochschule Zürich an. Professionalität erfordere fachdidaktisches Wissen. Auch Christina Hansen von der Universität Passau verwies auf die Notwendigkeit der Professionalisierung. Ob eine Lehrperson das Thema im Unterricht behandelt oder nicht, dürfe nicht dem Zufall geschuldet sein.
Zum Film und der Unterrichtsbroschüre diskutiert .
In den zwei darauffolgenden Workshops wurden außerschulische Vermittlungsangebote und Erfahrungen für die Primarstufe vorgestellt und diskutiert.
Angelika Purin vom Jüdischen Museum Hohenems präsentierte zwei Workshop-Programme, anhand derer sie in die Arbeitsweise des Museums mit Volksschulkindern und in die zugrundliegenden Prinzipien einführte. In diesem Zusammenhang stellte sie anschließend neueste Forschungsergebnisse zur Fluchtgeschichte eines Hohenemser Kindes aus dem Jahr 1939 vor und lud die Teilnehmerinnen und Teilnehmer zur Diskussion ein, wie dieses Material Eingang in künftige Vermittlungsarbeit finden könnte.
Thomas Rink berichtete über seine Arbeit mit jüngeren Schülerinnen und Schülern im NS-Dokumentationszentrum München. Er führt mit dem Kinderbuch „Anne Frank“ (von Josephine Poole) in die Thematik ein. Die Geschichte wird in einen historischen Kontext eingebunden, Fotografien belegen ihre Authentizität. Schließlich führt ein eigens von Kindern besprochener Mediaguide Grundschulkinder zu ausgewählten Stationen am historischen Ort und zu Fotos in der Ausstellung des NS-Dokumentationszentrums.
Veranstaltet wurde die Tagung als Kooperation der PH Tirol mit dem OeAD-Programm ERINNERN:AT, der International School for Holocaust Studies in Yad Vashem und dem Beauftragten der Bayerischen Staatsregierung für jüdisches Leben und gegen Antisemitismus (Foto: PH Tirol / Christine Roner).
Zum Ausklang der Tagung begaben sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer auf die Spuren jüdischen Lebens in Innsbruck. Selina Mittermeier von ERINNERN:AT Tirol brachte anhand von Gebäuden, Plätzen, Mahnmalen und Gedenktafeln das Leben und die Schicksale der jüdischen Bevölkerung in Innsbruck näher. Johanna Kollreider-Schäfer und Karin Villgrattner zeigten während des Stadtrundgangs Ansätze zur Vermittlung für Volksschulkinder auf.
Patrick Siegele, Bereichsleiter für Holocaust Education beim OeAD, betonte in seinem Schlusswort, dass die Vorstellung und Diskussion von Primarstufen-Materialien zu Nationalsozialismus und Holocaust eine bedeutende Weiterentwicklung im Vergleich zur ersten Tagung sei. Unterrichtsmaterialien seien jedoch nur ein Aspekt des Ganzen. Es habe sich gezeigt, dass es eine curriculare Verbindlichkeit an Pädagogischen Hochschulen und eine inhaltliche Schwerpunktsetzung im Lehrplan brauche, um jüdisches Leben vor, während und nach dem Nationalsozialismus in der Primarstufe zu thematisieren. In einer vielfältigen Migrationsgesellschaft sollten alle Kinder ihrem Recht auf Bildung in einer sicheren und wertschätzenden Schulumgebung folgen können. Dazu gehört, sich auch schon in der Volksschule mit Rassismus, Antisemitismus und Ausgrenzung auseinander zu setzen.