Nationalsozialismus und Holocaust im Sachunterricht – Ein Thema für die Volksschule?

Ein Beitrag von Christian Mathies (PH Tirol und OeAD, _erinnern.at_ Tirol). Das Thema Nationalsozialismus und Holocaust wird in Deutschland und der Schweiz schon seit längerem für jüngere Lernende aufbereitet. Wie hierzu der aktuelle Stand der Forschung ist und inwiefern die Themen Nationalsozialismus und Holocaust nun auch in Österreich zum Lerngegenstand in der Primarstufe werden, beschreibt Christian Mathies im Folgenden. Zum Unterrichtsfilm "Dorlis Leben", an dessen Konzept er beteiligt war, hat er als Kooperation der PH Tirol und _erinnern.at_ bereits Lernmaterialien entwickelt, durch die sich VolkschülerInnen mit den Themen Ausgrenzung, Flucht und Verantwortung auseinandersetzen.

Die Diskussion der Grundschuldidaktik, ob die NS-Zeit Teil des Sachunterrichts sein soll, gilt in Deutschland und der Schweiz seit der Jahrtausendwende weitgehend als abgeschlos­sen. Eine Beschäftigung mit der NS-Vergangenheit in der Primarstufe wird nicht infrage gestellt, sondern vielmehr empfohlen: „Holocaust und Nati­onalsozialismus müssen Gegenstände des Sachunterrichts sein“, weil sie „aus lebensweltlicher wie aus bildungstheoretischer Perspektive relevant“ sind.[1]

KritikerInnen äußern Zweifel in zweierlei Hinsicht. Die Komplexität des Gegenstandes überfordere die Kinder auf kognitiver Ebene. Es bestehe die Gefahr, die Ereignisse zu banalisieren und auf manipulative Weise zu prä­sentieren. Außerdem überfordere der Lerninhalt die Kinder emotional und eine Traumatisierung könne nicht ausgeschlossen werden.[2]

Die Forschung

Mittlerweile existieren etliche Lernmaterialien, die eine Auseinanderset­zung von Kindern mit der NS-Vergangenheit vor dem Hintergrund dieser Kritik in den Blick nehmen.[3] Der Einsatz der Vermittlungsangebote stützt sich auf empirische Befunde. Zum einen findet politische Sozialisation unbestritten bereits ab dem frühen Kindesalter statt.[4]

Zum anderen zeigen Studien für Deutschland, dass Kinder der dritten und vierten Klassen kon­krete Vorstellungen zur nationalsozialistischen Vergangenheit haben. Bei einer Befragung von etwa 800 Kindern an 30 Grundschulen gaben 90% an, außerhalb der Schule mit der Thematik der NS-Vergangenheit in Kontakt gekommen zu sein. Fast 80% der Befragten zeigten Interesse, mehr über die Zeit des Nationalsozialismus zu erfahren.[5]

Kinder räumen der NS-Vergangenheit im Erinnerungsdiskurs einen hohen Stellenwert ein, wie eine andere Untersuchung ergab. Sie sehen in der na­tionalsozialistischen Herrschaft eine Mahnung für die Gegenwart und sind sich bewusst, dass Wissen über die Vorgänge in der NS-Zeit präventiv wir­ken kann. Das übergeordnete Ziel des „Nie wieder!“ ist ihnen nicht fremd.[6]

Diese Ergebnisse legen eine rechtzeitige Beschäftigung mit der Thematik nahe, weil Kinder in einem pädagogisch ungeschützten Raum aufwachsen. Über Medien, Gesellschaft oder Familie kommen sie mit dem National­sozialismus unfreiwillig in Berührung, er ist Teil ihrer Lebensrealität. Die Thematisierung in einem professionellen Rahmen beugt einer Verfestigung von falschen Geschichtskonstruktionen, Halbwahrheiten und Vorurteilen vor.[7]

So reduzieren Kinder die NS-Herrschaft häufig auf die Person Adolf Hitlers. Die Mitverantwortung der Bevölkerung und vorhandene Hand­lungsspielräume blenden sie aus.[8]

 

Die Situation in Österreich

In Österreich steht die Diskussion aufgrund der später einsetzenden Ausei­nandersetzung mit der eigenen NS-Vergangenheit und der kürzeren Dauer der Volksschulzeit noch am Beginn. Während die Primarstufe in Österreich nur die ersten vier Schulklassen umfasst, dauert sie in Teilen Deutschlands und der Schweiz zwei Jahre länger. Empirische Untersuchungen lassen dementsprechend noch auf sich warten[9] und Lernmaterialien mit Öster­reichbezug sind Mangelware.[10] In der Ausbildung der Volksschullehrperso­nen wird der Thematik in aller Regel kein Stellenwert beigemessen.

Diesem Umstand steht die im Jänner 2021 von der österreichischen Bun­desregierung verabschiedete Nationale Strategie zur Bekämpfung von Antisemitismus gegenüber. In diesem Rahmen empfiehlt das Bundesminis­terium für Bildung, Wissenschaft und Forschung den Pädagogischen Hoch­schulen, schultypenspezifische Fortbildungen zur Thematik, „insbesondere für die Primarstufe“, anzubieten.[11] Der neue Volksschullehrplan legt eine Beschäftigung mit dem Nationalsozialismus nahe, ohne ihn beim Namen zu nennen. Die Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit deckt unter anderem ein grundlegendes Ziel der Politischen Bildung ab: Lernende zu motivieren, „im Dienste der Menschenrechte, der Demokratie und der Rechtsstaatlichkeit in der Gesellschaft aktiv werden zu wollen“.[12]

 

Über den Autor

Christian Mathies ist Historiker und unterrichtet am BRG in der Au in Innsbruck Mathematik und Geschichte/Sozialkunde/Politische Bildung. Er ist Lehrbeauftragter am Institut für Studien der Elementar- und Primarstufe an der PH Tirol und Mitarbeiter von _erinnern.at_, dem vom OeAD durchgeführten Programm zum Lehren und Lernen über Nationalsozialismus und Holocaust. In seinen Forschungs- und Arbeitsschwerpunkten steht ein regionalgeschichtlicher Zugang in der Auseinandersetzung mit der NS-Vergangenheit im Vordergrund.

Lernmaterialien für die Primarstufe zum Thema Holocaust und Nationalsozialismus 

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Textnachweise

[1] Zit. n. Detlef Pech, unfassbar(,) ungeklärt. Reflexionen über sachunterrichtliche Bedeutungen einer Auseinan­dersetzung mit dem Holocaust in der Grundschule, in: Detlef Pech/Marcus Rauterberg/Katharina Stoklas (Hg.), Möglichkeiten und Relevanz der Auseinandersetzung mit dem Holocaust im Sachunterricht der Grundschule (widerstreit sachunterricht beiheft 3), Frankfurt a. M. 2006, 51-69, hier 58.

[2] Noa Mkayton, Holocaustunterricht mit Kindern – Überle­gungen zu einer frühen Erstbegegnung mit dem Thema Holocaust im Grundschul- und Unterstufenunterricht, in: Medaon – Magazin für jüdisches Leben in Forschung und Bildung 5 (2011), Nr. 9, 1-9.

[3] Vgl. für Deutschland die Auflistung von Materialien, Kin­derbüchern, Filmen und Lernorten in der Handreichung des Anne Frank Zentrums Berlin und der Senatsverwal­tung für Bildung, Jugend und Familie (Hg.), Umgang mit Antisemitismus in der Grundschule. Alltag von Jüdinnen und Juden in Berlin, Auseinandersetzung mit antisemiti­schen Vorurteilen, Thematisierung des Holocaust, Berlin 2022 (3. Auflage), 64-68.

[4] Für Österreich etwa Philipp Mittnik, Politische und ge­sellschaftliche (Basis)Vorstellungen von Wiener Volks­schülerInnen. Ergebnisse einer empirischen Studie, in: Philipp Mittnik (Hg.), Politische Bildung in der Primar­stufe – Eine internationale Perspektive (Österreichische Beiträge zur Geschichtsdidaktik. Geschichte – Sozialkun­de – Politische Bildung 11), Innsbruck 2016, 23-40.

[5] Die Befragung fand im Schuljahr 2009/2010 in den Bundesländern Berlin, Brandenburg und Nordrhein-Westfalen statt, vgl. Christina Klätte: Frühes historisches Lernen über Nationalsozialismus und Judenverfolgung. Familiäre Bedingungen, Interessen und Wissenserwerb bei Viertklässlern, in: Isabel Enzenbach/Detlef Pech/Christina Klätte (Hg.), Kinder und Zeitgeschichte. Jüdi­sche Geschichte und Gegenwart, Nationalsozialismus und Antisemitismus (widerstreit sachunterricht beiheft 8), Berlin 2012, 85-99.

[6] Andrea Becher, Die Zeit des Holocaust in Vorstellungen von Grundschulkindern. Eine empirische Untersuchung im Kontext von Holocaust Education, Oldenburg 2009, 189ff.

[7] Mkayton 2011.

[8] Dies legen sowohl die Ergebnisse der Studie von Becher 2009 nahe als auch eine Untersuchung von Alexandra Flügel, Kinder können das auch schon mal wissen. Nati­onalsozialismus und Holocaust im Spiegel kindlicher Re­flexions- und Kommunikationsprozesse, Opladen 2009.

[9] Eine der seltenen Überlegungen stammt von Phil­ipp Mittnik, Holocaust Education in Austrian Primary Schools: A plea for teaching the history of National Socialism to 9-10 year olds, in: Claus-Christian W. Szejn­mann/Paula Cowan/James Griffiths (Hg.), Holocaust Edu­cation in Primary Schools in the 21st century. Current Practices, Potentials and Ways Forward (The Holocaust and its Contexts), Cham 2018, 95-108.

[10] Eine Ausnahme stellt das Kinderbuch von Martina Füh­rer/Gertraud Hoheneder/Ruth Nowotny, Weg von hier … Linz – Shanghai – Israel. Stationen im Leben der Linzer Jüdin Ilse Mass, Linz 2012, dar. Es schildert die Lebensge­schichte von Ilse Mass und ihre Flucht vor den National­sozialisten. Die Website www.weg-von-hier.at bereitet didaktische Vorschläge zur Arbeit mit dem Buch auf.

[11] Jana Rosenfeld/Stefan Schmid-Heher/Romina Wiege­mann, Prävention von Antisemitismus durch Bildung. Empfehlungen zur Umsetzung der Nationalen Strategie gegen Antisemitismus für die österreichische Bildungs­verwaltung und Einrichtungen der Lehrpersonenbil­dung, Wien 2022, 27.

[12] Lehrplan der Volksschule, BGBl. II Nr. 1/2023, Anlage A zu Art. 1, 12.