Bericht: Lebensgeschichtliches Erzählen und Lernen mit Nachkommen von NS-Verfolgten

Internationales Fachsymposium im Rahmen des Pilotprojekts „Nachkommen von NS-Verfolgten erzählen. Lernsettings und Lernmöglichkeiten an Schulen“

Am 23. und 24. September 2024 fand am Institut für Erziehungswissenschaft und Bildungsforschung der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt ein internationales Fachsymposium statt, das im Rahmen des  Pilotprojekts „Nachkommen von NS-Verfolgten erzählen: Lernsettings und Lernmöglichkeiten an Schulen“ vom OeAD-Programm ERINNERN:AT, der Pädagogischen Hochschule Tirol, dem Verein „Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen“ und der Universität Klagenfurt konzipiert wurde. Im Zeitraum von Mai 2024 bis Juni 2025 werden in Fallstudien Erzähl-Lern-Settings mit Nachkommen von jüdischen NS-Verfolgten und SchülerInnen in mehreren österreichischen Schulen erprobt. Diese Schulbesuche, wie auch regelmäßige Treffen mit Nachkommen, werden forschend begleitet, um daraus Empfehlungen für die Arbeit mit Nachkommen im Schulunterricht ableiten zu können. Ebenfalls einfließen werden die Ergebnisse des am Fachsymposium ermöglichten Wissens- und Erfahrungsaustausches mit ausgewählten ExpertInnen aus dem deutschsprachigen Raum, die ihre Konzepte und Projekte zur Bildungsarbeit mit Nachkommen vor- und zur Diskussion stellten.

Durch das zweitägige Programm des Symposiums führten Patrick Siegele, Leiter des Bereichs Holocaust Education beim OeAD, und Nadja Danglmaier, ERINNERN:AT Netzwerk-Koordinatorin für Kärnten.

Patrick Siegele begrüßte seitens des Projektteams und führte ins Thema ein, in dem er die Relevanz der Frage, welche Rolle die Nachkommensgeneration für die historisch-politische Bildungsarbeit spielen kann, für ERINNERN:AT hervorhob – schließlich organisiert und betreut ERINNERN:AT seit mehr als zwei Jahrzehnten Zeitzeuginnen- und Zeitzeugengespräche an Schulen im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft und Forschung. Jährlich werden damit über 7.000 Schülerinnen und Schüler ab der 8. Schulstufe erreicht.

Als Fördergeber galt es dem BMBWF mit der Abteilung I/1 (hier ist das Zeitzeuginnen-und Zeitzeugen-Programm angesiedelt), dem Bundeskanzleramt, dem Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus sowie der Deutschen Botschaft Wien besonderen Dank auszusprechen. Klaus Vietze, Gesandter der Botschaft, richtete ein Grußwort an die Teilnehmenden und bezog sich dabei u.a. auf die aktuellen Wahlen bzw. Wahlkämpfe in Deutschland und Österreich und die Herausforderung, junge Menschen einen „Kompass“ für die Auseinandersetzung mit gesellschaftspolitischen Fragen mitzugeben; dieser fehle vor allem im Umgang mit (sozialen) Medien.

In der Vorstellungsrunde skizzierten die Teilnehmenden ihren fachlichen Hintergrund, bisherige Erfahrungen mit dem Tagungsthema wie auch Erwartungen an das Symposium: Diese reichten allgemein vom Wunsch nach Fachaustausch und Vernetzung, nach Klärung und Präzisierung, was „Nachkommenschaft“ in ihrer großen Heterogenität überhaupt bedeutet, bis hin zur Identifizierung von Potentialen und Grenzen der Integration von Nachkommengesprächen in (antisemitismuskritische) Bildungssettings (Schulen, Museen, KZ-Gedenkstätten, …). Die eigene Familiengeschichte und ihr transgenerationales Gedächtnis wurden ebenfalls als Motivationen genannt, sich mit Fragen der Nachkommenschaft zu befassen.

Pilotprojekt „Nachkommen von NS-Verfolgten erzählen: Lernsettings und Lernmöglichkeiten an Schulen“

Das Projektteam stellte anschließend Ausgangslage, Ziele und leitende Fragestellungen des Pilotprojekts „Nachkommen von NS-Verfolgten erzählen: Lernsettings und Lernmöglichkeiten an Schulen“ (Laufzeit: Jänner 2024 – Dezember 2025) vor, gab einen Einblick in den Stand der entwickelten Materialien und führte ins Design der Begleitforschung ein.

Julia Demmer, Leiterin des Zeitzeuginnen- und Zeitzeugen-Programms bei ERINNERN:AT, berichtete über die in den letzten Jahren zugenommen Anfragen von Nachkommen von NS-Verfolgten, Schulen zu besuchen bzw. Teil des Zeitzeuginnen- und Zeitzeugen-Programms zu werden. ERINNERN:AT konnte diesen Anfragen bisher nicht angemessen entsprechen. Auch gibt es in Österreich im Unterschied zu Deutschland und der Schweiz wenig Erfahrung in der pädagogischen Arbeit mit Nachkommen. In der Regel sind es Einzelpersonen oder Kulturschaffende, die sich mehr oder weniger explizit als Nachkommen engagieren und als solche – überwiegend ohne institutionelle Anbindung – Schulen besuchen. Vor diesem Hintergrund wurde das Pilotprojekt entwickelt: Hauptziel ist es, Lernsettings zu konzipieren, durchzuführen und zu analysieren, in denen Nachkommen aus ihrem Leben und über ihre Erfahrungen erzählen. Dazu werden zehn Gespräche an Schulen in Wien, Tirol und Kärnten (8. Schulstufe, Mittelschule und AHS) durchgeführt und begleitend erforscht.

Als zweiten inhaltlichen Input zum Projekt präsentierten Irmgard Bibermann und Christian Mathies, beide Pädagogische Hochschule Tirol und ERINNERN:AT Tirol, ein erstes, im Rahmen des Projektes entwickeltes Begleitmaterial für den Unterricht und legten Lehrplanbezüge (z.B. Nachwirkungen der NS-Zeit in der österreichischen Gesellschaft), Lernpotentiale (z.B. Vernetzung unterschiedlicher Anwendungsbereiche: Holocaust/Shoah und Genozid, Geschichtskulturen/Erinnerungskulturen/Erinnerungspolitik, gesellschaftlicher Wandel im 20. und 21. Jahrhundert in Österreich) dar. Daran anknüpfend wurde der Aufbau der Materialien, Impulse zur Vor- und Nachbereitung (z.B. Impuls zur Frage, wie sich Erinnern, Erzählen und Zuhören anfühlt; Arbeiten mit einem historischen Zeitstrahl zum Nationalsozialismus und den Nachwirkungen) und mögliche Arbeitsaufgaben anhand eines im Pilotprojekt mitwirkenden Nachkommen gezeigt (z.B. Vorarbeit zur Lebensgeschichte; Unterstützung bei der Entwicklung von Fragen mit den SchülerInnen; Reflexionsmöglichkeiten nach dem Gespräch). Nachfragen der Teilnehmenden bezogen sich auf den inhaltlichen Fokus der Nachkommenerzählungen, etwa die Gewichtung der Überlebensgeschichte von Eltern und Großeltern, des Familiengedächtnisses und dem Umgang damit (Erzählen vs. Schweigen), wie auch auf eine mögliche Überdidaktisierung des Erzähl-Lern-Prozesses. Eine Empfehlung erging bei letztem Punkt dahingehend, SchülerInnen verstärkt mit Quellen als Quellen und eigenverantwortlichen Recherchen arbeiten zu lassen. Anregungen aus dem Fachsymposium werden in die weitere Entwicklung der Begleitmaterialien einfließen.

Die Begleitforschung wird von einem Team der „Doku Lebensgeschichten“ (Universität Wien) mit einem qualitativen Forschungsansatz durchgeführt. Bettina Dausen, ehemalige Professorin am Institut für Bildungswissenschaft an der Uni Wien und Vereinsvorständin der Doku Lebensgeschichten, skizzierte das Forschungsdesign: Die in unterschiedlichen Schulkontexten erprobten Erzähl-Lern-Settings mit Nachkommen von NS-Verfolgten werden mit Methoden der teilnehmenden Beobachtung und durch Reflexionsgespräche in Fokusgruppen untersucht und im Fallvergleich ausgewertet. Folgende Fragestellungen sind dabei leitend: Wie gestalten sich Bildungssituationen mit biographischen Erzählungen von Nachkommen im schulischen Kontext und welche Besonderheiten sind im Vergleich mit langjährig praktizierten Bildungssettings mit Erzählungen der ersten Generation auszumachen? Welche Ansatzpunkte für die pädagogische Vermittlung und Begleitung von Gesprächen zwischen Nachkommen und Schülerinnen und Schülern lassen sich rekonstruieren und in welche Richtung könnte eine entsprechende pädagogische Arbeit in Österreich entwickelt werden? Dausien betonte dabei das rekonstruktive Moment der Prozessbeobachtung und die Notwendigkeit, die verschiedenen Perspektiven der am Lernprozess Beteiligten (Lehrpersonen, Zeitzeuginnen/Zeitzeugen, SchülerInnen, Projektteam, forschende BeobachterInnen) einzubeziehen.

In der von Mai bis Juli 2024 erfolgten Erhebungsphase 1 wurden einerseits drei Erzähl-Lern-Settings mit teilnehmender Beobachtung durchgeführt, dazugehörige Forschungsprotokolle und Fragebögen für SchülerInnen sind in Arbeit. Andererseits fanden zwei Fokusgruppen mit den beteiligten Nachkommen, Lehrpersonen und ModeratorInnen statt. Begonnen hat auch die Auswertungsphase 1 (Juli bis November 2024), die eine erste Zwischenbilanz erlaubt: Mit Blick auf die Rahmung und den Verlauf der Erzähl-Lern-Situation sind u.a. folgende Aspekte von Interesse: „Regeln“ und Routinen der Vorbereitung der AkteurInnen; Erzählmotivationen und -perspektiven;  Rolle und Handlungsmöglichkeiten der Lehrpersonen; Einbeziehung der SchülerInnen; Umgang mit Kontingenz, Widersprüchlichem, „Störungen“, Konflikten. Dausien bilanzierte, dass die teilnehmende Beobachtung ergiebig, aber anspruchsvoll und aufwendig ist und sich die Fokusgruppen als gemeinsame Reflexionsmöglichkeit und als Forschungsmaterial bewährt haben.

Gemeinsame Arbeit an Materialien 

Bisherige Ergebnisse, Erkenntnisse und Erfahrungen im Projekt wurden in der Arbeitsgruppenphase 1 anhand Materialien aus der Begleitforschung in Kleingruppen diskutiert.

Im Mittelpunkt von AG 1 standen Rahmung und Vorbereitung der Schulgespräche. Angeleitet durch das Projektteam arbeiteten die Teilnehmenden gemeinsam mit bisher vorliegenden Materialien. Was erfahren wir anhand der Beobachtungsprotokolle hinsichtlich Vorbereitung und Rahmung der Schulgespräche? Wie wird durch die Rahmung das Nachkommen-Gespräch vorbereitet/inszeniert? Wie gestaltet sich die „Rahmung“ und wer ist daran auf welche Art und Weise beteiligt? AG 2 widmete sich einem Erzähleinstieg und Ebenen der Thematisierung. Die Teilnehmenden arbeiteten mit dem Anfang eines Transkripts eines Nachkommgesprächs in einer Schulklasse und analysierten gemeinsam die Rahmung bzw. das Setting für den Einstieg in das Gespräch. Wie führen die beteiligte Lehrperson und die Moderatorin in die Erzählung der Nachkommin ein? Wie wird diese vorgestellt und welche lebensgeschichtlichen Details sind der Moderatorin dabei wichtig? Wie unterscheidet sich diese Erzählung von jener der Nachkommin selbst? Und wie setzt diese eine Rahmung bei den SchülerInnen, indem sie z.B. das „Du“ anbietet und betont, dass es ihr vor allem um Fragen der Schülerinnen und Schüler geht.

In AG 3 wurde das Begleitmaterial für den Unterricht vor allem in Bezug auf die Frage der Darstellung der Familiengeschichte betrachtet. In den aktuellen Begleitmaterialien findet sich jeweils ein kurzer biografischer Text zur Lebensgeschichte der Nachkommen und ihren verfolgten Eltern oder Großeltern. Einmal wird dies durch ein Videoporträt der Großmutter, einen Interviewausschnitt des Vaters und einmal durch Familienfotos ergänzt. Anhand dieser sollen SchülerInnen bereits im Vorfeld angeregt werden, Fragen an die Nachkommen zu entwickeln. Die Begleitmaterialien wurden als inhaltlich und methodisch anspruchsvoll wahrgenommen und der Einwand der Überdidaktisierung – mit Hinweis auf die Potentiale eigenverantwortlicher Recherchen – kam erneut zur Sprache.

Als übergeordnete Frage aller Arbeitsgruppen ließ sich das Verhältnis zwischen Erzählung der Nachkommen, Familiengeschichte und historischem Kontextwissen identifizieren. Wesentliche Diskussionspunkte und Erkenntnisse aus den Arbeitsgruppen wurden anschließend ins Plenum getragen.

Eine Klagenfurter Nachkommin erzählt

Moderiert von Nadja Danglmaier hatten die Teilnehmenden am Abend des ersten Konferenztages die Möglichkeit, die Klagenfurter Nachkommin Felice Greussing-Preis und deren Familiengeschichte kennenzulernen. 1955 als Tochter eines jüdischen Vaters und einer katholischen Mutter in Klagenfurt geboren, hatte Felice Greussing Preis erst im Erwachsenenalter über die Herkunft und Geschichte ihres Vaters erfahren: Adolf Preis führte ein Damenbekleidungsgeschäft in Klagenfurt und wurde nach dem „Anschluss“ ins Konzentrationslager Dachau verschleppt. Unter der Auflage, das Deutsche Reich zu verlassen, kam er frei, sein Fluchtversuch nach Äthiopien scheiterte allerdings und er wurde in einem Lager in Italien interniert. Er überlebte den Krieg und kehrte nach 1945 nach Kärnten zurück, wo er das „arisierte“ Geschäft zurück erwirken konnte.

Während es innerhalb der Familie keine Besprechbarkeit der Verfolgungs- und Vertreibungserfahrung des Vaters gab (Auskunft konnte allein die Mutter geben, die eigenen Kinder und Verwandte zeigten kaum Interesse), wandte sich Greussing-Preis nach außen und erzählte anlässlich Gedenk- und Schulveranstaltungen über ihre Familiengeschichte

In der am zweiten Symposiumstag erfolgten Reflexionsrunde der Teilnehmenden zur Abendveranstaltung wurde deutlich, dass es „das typische Beispiel“ einer/s Nachkommin/en bzw. einer Nachkommenerzählung und darin zu findender „Positionen“ nicht gibt. Jede Nachkommenerzählung bringe andere Themen und Positionen mit sich und nicht alle Themen eignen sich für den Unterricht. Es sollte genau überlegt werden, welche Themen anhand welcher lebensgeschichtlichen Erfahrungen und Verarbeitungsweisen mit SchülerInnen besprechbar werden können und wie dies gestaltet (z.B. Vor-/Nachbereitung) oder auch moderiert werden muss. Ein Bereich ist hierbei z.B. das Thema  „jüdische Identität“. Die Klagenfurter Nachkommin beschrieb diese als kulturelle, also sich der jüdischen Kultur zugehörig fühlende. Es wurde besprochen, dass Identität nichts Konstantes, sondern etwas sich stetig Wandelndes und Vielfältiges ist. Es zeigte sich, dass im Zuge von Gesprächen mit Nachkommen jüdischer NS-Verfolgter im Unterricht, die Vielfältigkeit jüdischer Identität vor und nach 1945 (auch in Bezug auf regionale Spezifika) thematisiert werden müsste. Als unerlässlich für Schulbesuche kristallisierten sich Informationen zur Familiengeschichte und zum historischen Kontext heraus, wie auch, die Klärung, was im Unterricht eigentlich passieren solle, also eine Klärung von Erwartungen und Zielen für Nachkommengespräche an Schulen. Nachfragen bezogen sich auf die „Auswahl“ von NachkommInnen in Pilotprojekt und deren unterschiedlichen Erfahrungsgraden und der Herausforderung, Multiperspektivität zu vermitteln, da den SchülerInnen ja stets „nur“ ein „Modell“ im Sinne einer exemplarischen Geschichte vorgestellt werden könne. Der letzte Punkt stellt auch bei Gesprächen mit Zeitzeuginnen und Zeitzeugen der ersten Generation eine Herausforderung dar, der in der Regel über die Arbeit im Unterricht mit mehr als nur einer Lebensgeschichte (z.B. über Lernmaterialien, Interview, biografische Texte) begegnet wird.

Referenzprojekte aus den Nachbarländern 

Erfahrungen in der pädagogischen Arbeit mit Nachkommen in Deutschland und der Schweiz standen im Fokus des zweiten Halbtags. Urs Urech, Geschäftsleiter der Stiftung Erziehung zur Toleranz, Zürich, berichtete über Erfahrungen aus dem Projekt „Holocaust. Nachkommen erzählen“, das er auch initiiert hat. Im Jahr 2022 haben 10 NachkommInnen 37 Schulklassen an Gymnasien und Berufsschulen in 11 Kantonen der Deutschschweiz besucht. Lehrpersonen und Lernende haben je einen Fragebogen ausgefüllt und so Feedback gegeben. Auch wurden einige teilnehmende Beobachtungen durchgeführt. Zum Projekt liegt eine Evaluierung[1] vor, aus der hervorgeht, dass die Mehrheit der schriftlich befragten Lehrpersonen die Vermittlung der Shoah durch die NachkommInnen sehr positiv beurteilten. Die SchülerInnen bewerten die Begegnungen ebenfalls positiv und betonten dabei die Bedeutung des Nichtvergessens und des besseren Verständnisses der damaligen Zeit. Aus den Rückmeldungen lässt sich schlussfolgern, dass das Projektformat der NachkommInnen-Besuche und -Erzählungen eine bildungswirksame Ergänzung zum schulischen Geschichtsunterricht ist. Empfohlen wird, die Einbettung in den Unterricht weiter zu optimieren und die Begleitmaterialien zu erweitern, um die Reflexion und das Verständnis zu vertiefen. 

Das zweite Referenzprojekt wurde von Thorsten Fehlberg, Universität zu Köln und Else Frenkel-Brunswik Institut und vormals Bundesverband Information und Beratung für NS-Verfolgte in Köln, vorgestellt. Er gab Einblick in seine Forschung über Motivationen für gesellschaftspolitisches Engagement von Jüdinnen und Juden der zweiten und dritten Generation in Deutschland, wobei die Teilhabe in Bildungs- und Erinnerungsprozessen besonders relevant war. Aus dem Input wurde einmal mehr deutlich, dass Nachkommen viel mehr als „nur“ ein Ersatz für ZeitzeugInnen sind. Fehlberg erarbeitete eine „Typologie“ des gesellschaftspolitischen Engagements von Jüdinnen und Juden der Folgegeneration, die er in die Kategorien „Verstehen und Verständigung“, „Sicherheit und Selbstwirksamkeit“, „Wut und Widerständigkeit“ teilte. Als Vergleichsebenen sind „Politische Mission“, „Umgangsformen und Anbindungen“, „Erfahrung und Tradierung“, sowie „Bezug zum Judentum“ herangezogen worden. Aspekte, die in der anschließenden Diskussion mit den Teilnehmenden thematisiert wurden, waren u.a. eigene Antisemitismuserfahrungen als Ausgangspunkt für gesellschaftspolitisches Engagement und Aktivismus sowie „Jüdischkeit“ als einer vielen politischen Bezugspunkten.

[1] Mathis, Christian: Bericht zur Auswertung der Besuche von Nachkomm:innen.  Projekt «Holocaust. Nachkommen erzählen» der Stiftung Erziehung zur Toleranz (SET). Evaluation der Besuche auf der Sekundarstufe 2 in den Jahren 2022/23, S. 17 und 18. Dankenswerterweise zur Verfügung gestellt von Urs Urech.

Projektvorstellungen im Worldcafé

Die Arbeitsgruppenphase 2 war als Worldcafé zu praktischen Erfahrungen mit Nachkommen-Projekten an Schulen konzipiert: Die Teilnehmenden lernten die Projekte „Next Generation“ (Zsófia Heiman, Workshopleiterin bei Granatapfel Kulturvermittlung, Graz), „Holocaust History Projekt (Daniela Ebenbauer-Dadieu, Nachkommin und Workshop-Leiterin, Stadtschlaining, Burgenland), „Transgenerationale Überlieferung von Geschichte“ (Karin Heddinga, Wissenschaftliche Referentin im Projekt Dokumentationszentrum „denk.mal Hannoverscher Bahnhof“ der Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte) und ein Projekt zu Nachkommen von verfolgten Sinti und Roma in Berlin (Thomas Erbel, Projektleiter bei Amaro Drom Deutschland) kennen. Es zeigte sich ein breites Spektrum an Bildungsprojekten mit NachkommInnen mit unterschiedlichen Formaten (Vorträge, Workshops, dialogische Formate) sowie Einblicke in unterschiedliche didaktische Materialien (auch digitale) im Kontext der historisch-politischen Vermittlungsarbeit von NS-Geschichte (z.B. lebensgeschichtliche Ansätze, lokalhistorische Bezüge, Arbeit mit Bildern und Artefakten) und ihre Entwicklung (z.B. Interviewprojekte, partizipative Ansätze, Kooperationsprojekte).

Das Projekt „Next Generation“ des Vereins Granatapfel Graz bei dem, neben anderen Vortragenden, Zsófia Heiman SchülerInnen in Workshops die Geschichte ihrer Familie erzählt, trifft an Schulen auf großes Interesse. Zentral sind dabei mitgebrachte Erinnerungsstücke, Fotos, der Stammbaum der Familie sowie Erläuterungen zu Gegenständen und Begriffen jüdischen Lebens.

Daniela Ebenbauer hat schon viele Jahre Erfahrung mit ihrem „Holocaust History Workshop“ an Schulen, die über die Friedensburg Schlaining vermittelt werden. Die mehrere Stunden dauernden Workshops behandeln sowohl die Geschichte väterlicher- wie mütterlicherseits. 

Daniela Ebenbauer ist Tochter eines jüdischen Vaters, der als einziger von 7 Geschwistern Auschwitz überlebte, und Enkelin eines führenden NSDAP-Mitglieds. Bei den Workshops für SchülerInnen der 7.-10. Schulstufe aller Schultypen geht es intensiv auch um Fragen wie: Wie schnell wird jede/r von uns zur/m Mitläufer/in, zur/zum (Mit)Täter/in? Zum Ende des Workshops findet auch eine Einführung zum Thema „Neonazis“ statt, z.B. welche Texte und Symbole werden.

Karin Heddinga präsentierte das vielfältige Ausstellungs- und Vermittlungsangebot der Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte, zu dem auch die KZ-Gedenkstätte Neuengamme und das Dokumentationszentrum „denk.mal Hannoverscher Bahnhof“ gehört. An der KZ-Gedenkstätte Neuengamme gibt es eine langjährige Zusammenarbeit mit Nachkommen, die in verschiedene Formate eingebunden sind (z.B. Gedenkveranstaltungen, Austauschtreffen für Nachkommen, Forum „Zukunft der Erinnerung“ , Familienrechercheseminare, Podcast). Die Erfahrungen und Perspektiven der so genannten zweite und dritte Generation sind auch Teil der Hauptausstellung. Eine Online-Ausstellung „#WaswillstDutun?“ portraitiert zudem 21 Menschen mit diversen Familiengeschichten während des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs und zeigt die Auswirkungen von Familiengeschichte auf Identität, Denken und gesellschaftliches Handeln. Für das „denk.mal Hannoverscher Bahnhof“ entstand eine Ausstellung mit Videostationen und eine Broschüre mit Fotos und Texten mit Kindern, Enkeln und Urenkeln Verfolgter am Gedenkort: „Nicht nur ein Denkmal“. Basis waren narrative biografische Interviews mit Menschen, die vom Hannoverschen Bahnhof deportiert wurden, bzw. mit Verfolgten, deren Angehörige deportiert wurden. Hinzu kamen Gespräche mit Kindern, Enkeln und Urenkeln über die Auswirkungen ihrer Familiengeschichte auf ihr heutiges Leben. Aktuell werden Nachkommen in dem partizipativ angelegten Projekt „Welche Stimme haben wir?“ eingebunden. Ziel ist mit Nachkommen von NS-Verfolgten gemeinsam Möglichkeiten einer partizipativen Bildungsarbeit zu erkunden und gemeinsam Konzepte und Formate für die Bildungsarbeit zu entwickeln und die Ergebnisse in Form einer Handreichung zu veröffentlichen.

Thomas Erbel stellte die spannende Arbeit von Amaro Drom e.V. Deutschland vor. Amaro Drom („Unser Weg") ist Teil des Kompetenznetzwerks Antiziganismus. Der Verein Amaro Drom ist eine interkulturelle Jugendselbstorganisation von Roma/Nicht-Roma und Romnja/Nicht-Romnja mit dem Ziel, jungen Menschen durch Empowerment und Selbstorganisation Raum zu schaffen für gesellschaftspolitische Beteiligung. Der Verein ist basisdemokratisch aufgebaut und bietet jungen Menschen Vernetzung sowie gemeinsames Lernen für Achtung und Respekt. Im Bereich der Bildungsarbeit gegen Antiziganismus geht es um den Abbau von rassistischen Vorurteilen. Der Verein bietet Seminare und Vorträge für Jugendverbände, Schulen und (nicht-)staatliche Einrichtungen sowie Begegnungs- und Dialogsworkshops mit Jugendlichen. Zusätzlich gibt es über die Website des Vereins Materialien, wie Videos, ein Praxishandbuch und eine Zeitschrift. Auch auf Tik-Tok ist Amaro Drom aktiv.

ExpertInnen-Gesprächsrunde

Die abschließende Diskussion – moderiert von Patrick Siegele – bestritten drei ExpertInnen: Helga Embacher, Institut für Zeitgeschichte, Paris Lodron Universität Salzburg, Werner Dreier, Historiker, Geschichtelehrer und ehemaliger Geschäftsführer von ERINNERN:AT, sowie Romina Wiegemann, Leitung Pädagogik und Bildungsprogramme, Kompetenzzentrum antisemitismuskritische Bildung und Forschung, Berlin. 

Das ExpertInnen-Gespräch begann mit einer Frage zu Zeitzeuginnen/Zeitzeugen- bzw. NachkommInnen-Erzählungen als Quellen und deren Relevanz für die Geschichtswissenschaft, insbesondere für die Nachkriegsforschung und für Antisemitismuskontinuitäten. Zu wenig berücksichtigt werde die Veränderung der jüdischen Communities und deren große Heterogenität, wie auch der Mehrwert von Nachkommengesprächen im Vergleich zu anderen Quellen (Bücher, Filme) und die Unterschiede zwischen Zweiter und Dritter Generation. Auf Antisemitismus-Erfahrungen von NachkommInnen in der post-nationalsozialistischen Gesellschaft müsse ein Fokus liegen, dabei müssen auch neue Formen des Antisemitismus berücksichtigt werden, die für die erste Generation keine Rolle gespielt haben. Hinsichtlich eines „gelungenen Geschichtsunterrichts“ sei erforderlich, die Kriterien vorab festzulegen und die Ziele zu präzisieren. Was sind die Rollen, Agenden und Ziele der AkteurInnen und Institutionen? Welche Inhalte und Kompetenzen sollen vermittelt werden? Was ist das Geschichtsbegehren und worin liegen die Interessen der SchülerInnen? Es bestehe Schärfungsbedarf auf all diesen Ebenen. Für die Pilotphase ist zudem empfehlenswert, SchülerInnen Gesprächskultur(en) und Fähigkeiten zum Umgang mit Geschichte zu vermitteln wie auch nach der Begegnungsphase mit NachkommInnen eine Reflexionsphase zu ermöglichen. Verantwortung bestehe sowohl für die NachkommInnen als auch für die SchülerInnen. Mit Blick auf Fragen zu transgenerationalen Traumata sei eine Begriffsschärfung notwendig, wie auch die Teams noch multiprofessioneller sein könnten und PsychologInnen (FamiliensystemikerInnen, TiefenpsychologInnen, TraumatherapeutInnen) herangezogen werden könnten.  

Das zweitätige Fachsymposium endete mit einem Ausblick des Projektteams: Die Ergebnisse des Pilotprojekts werden im Juni 2025 im Rahmen eines Ergebnisworkshops erstmals vorgestellt und diskutiert und, darauf aufbauend, Empfehlungen für eine zukünftige Bildungspraxis mit Nachkommen entwickelt. Zum Workshop werden alle Projektteilnehmenden sowie das BMBWF und der wissenschaftliche Beirat von ERINNERN:AT eingeladen. Die finalen Ergebnisse werden in einem schriftlichen Projektbericht formuliert, in den auch die Rückmeldungen aus dem Workshop eingehen. Schwerpunkte des Berichts sollen sein: Erfahrungen aus den Fallstudien, Perspektiven weiterer Forschung und Empfehlungen für eine künftige Bildungspraxis mit Nachkommen von NS-Verfolgten.

Teilnehmende (in alphabethischer Reihenfolge)

Gertrud Aichem-Degreif, Kulturreferentin an der Deutschen Botschaft Wien

Werner Dreier, Historiker, ehemaliger Geschäftsführer von erinnern.at, Bregenz

Daniela Ebenbauer-Dadieu, Projektleiterin „Holocaust History Project“, Stadtschlaining, Burgenland

Helga Embacher, Institut für Zeitgeschichte, Paris Lodron Universität Salzburg

Thomas Erbel, Projektleiter Amaro Drom Deutschland, Berlin

Livia Erdösi, Referentin für Community Outreach, Jüdisches Museum Wien

Thorsten Fehlberg, Politologe, Universität zu Köln und Else Frenkel-Brunswik Institut

Karin Heddinga, Referentin im Projekt „Transgenerationale Überlieferung von Geschichte“, Stiftung Hamburger Gedenkstätten und Lernorte

Zsófia Heiman, Referentin bei Granatapfel Kulturvermittlung, Graz

Thomas Hellmuth, Institut für Geschichte (Didaktik der Geschichte), Universität Wien

Akim Jah, Leitung der Abteilung Forschung und Dokumentation, KZ-Gedenkstätte Bergen-Belsen, Celle

Victoria Kumar, Historikerin, Programmleiterin OeAD ERINNERN:AT, Bregenz

Michaela Niklas, Referentin, Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus, Wien

Claus Oberhauser, Institutsleiter, Pädagogischen Hochschule Tirol

Milli Segal, Kuratorin und PR-Beraterin, Wien

Urs Urech, Geschäftsleitung Stiftung Erziehung für Toleranz, Zürich

Daniel Vyssoki, Psychotherapeut, ESRA Wien

Romina Wiegemann, Leitung Pädagogik und Bildungsprogramme, Kompetenzzentrum antisemitismuskritische Bildung und Forschung, Berlin

Aya Zarfati, wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Gedenk- und Bildungsstätte Haus der Wannsee-Konferenz, Berlin

für das Projektteam:

Irmgard Bibermann, Pädagogische Hochschule Tirol und ERINNERN:AT Tirol, Innsbruck

Noy Brock, OeAD ERINNERN:AT, Wien

Nadja Danglmaier, Institut für Erziehungswissenschaft und Bildungsforschung, Alpen- Adria-Universität Klagenfurt und ERINNERN:AT Kärnten

Bettina Dausien, Institut für Bildungswissenschaft und Doku Lebensgeschichten, Universität Wien

Julia Demmer, OeAD ERINNERN:AT, Wien

Christian Mathies, Pädagogische Hochschule Tirol und ERINNERN:AT Tirol, Innsbruck

Amos Postner, Institut für Bildungswissenschaft, Universität Wien

Patrick Siegele, OeAD, Bereichsleiter Holocaust Education, Wien