Pilotprojekt: Nachkommen von NS-Verfolgten erzählen

In einem Pilotprojekt von ERINNERN:AT in Kooperation mit der PH Tirol, der Universität Klagenfurt und dem Verein „Doku Lebensgeschichten“ werden 2024 und 2025 Lernsettings und Lernmöglichkeiten mit Nachkommen jüdischer NS-Verfolgter konzipiert, erprobt und wissenschaftlich evaluiert.

Mit dem Älterwerden und dem Abschied von der sogenannten ersten Generation Überlebender des NS-Regimes stellt sich vermehrt die Frage nach der Zukunft der Zeitzeugenschaft und dem Übergang vom kommunikativen zum kulturellen Gedächtnis[1]. Eine Antwort neben anderen könnten Gespräche und Begegnungen mit Nachkommen von NS-Verfolgten sein, also der sogenannten zweiten und dritten Generation. Ihre Erzählungen über Erfahrungen mit Flucht, Exil und Rückkehr wie auch mit Antisemitismus, Rassismus oder Antiziganismus nach 1945 können Ausgrenzungs- und Diskriminierungskontinuitäten sichtbar machen sowie zur Aufarbeitung und pädagogischen Auseinandersetzung mit den Folgen der NS-Geschichte in den post-nationalsozialistischen Gesellschaften in Deutschland und Österreich beitragen.

In Kooperation mit der Pädagogischen Hochschule Tirol, der Universität Klagenfurt und dem Verein „Doku Lebensgeschichten“ an der Universität Wien werden 2024 und 2025 Lernsettings und Lernmöglichkeiten mit Nachkommen jüdischer NS-Verfolgter konzipiert, erprobt und wissenschaftlich evaluiert.  

Zeitzeuginnen und Zeitzeugen und deren Nachkommen an österreichischen Schulen

Seit mehr als 20 Jahren unterstützt das OeAD-Programm ERINNERN:AT im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung, Wissenschaft und Forschung (BMBWF) Zeitzeuginnen- und Zeitzeugen-Besuche ab der 8. Schulstufe organisatorisch und finanziell. Jährlich werden damit über 7.000 Schülerinnen und Schüler erreicht. Die wenigen heute noch aktiven Zeitzeuginnen und Zeitzeugen gehören verschiedenen Opfergruppen des Nationalsozialismus an. Zum Zeitzeuginnen- und Zeitzeugen-Programm von ERINNERN:AT

In den letzten Jahren erreichten ERINNERN:AT zunehmend Anfragen von Nachkommen von NS-Verfolgten, begleitet Schulen zu besuchen bzw. Teil des Zeitzeuginnen- und Zeitzeugen-Programms des BMBWF zu werden. Bisher konnten wir diesen Anfragen nicht angemessen entsprechen. In Österreich gibt es im Unterschied zu Deutschland und der Schweiz bisher nur sehr wenig Erfahrung in der pädagogischen Arbeit mit Nachkommen. In der Regel sind es Einzelpersonen oder Kulturschaffende, die sich mehr oder weniger explizit als Nachkommen engagieren und als solche Schulen besuchen.

Chancen der Bildungsarbeit mit biografischen Erzählungen von Nachkommen

Ein Ergebnis von Nachkommen-Projekten in Deutschland und der Schweiz ist, dass die Unterstützung von Nachkommen eine hohe gedenkpolitische und pädagogische Relevanz hat. Nachkommen verbinden mit ihrem Wunsch, mit jungen Menschen ins Gespräch zu kommen, ein Engagement für Menschenrechte und Antidiskriminierung sowie die Hoffnung, Anerkennung für die Opfer zu erreichen.

Begegnungen und Gespräche mit Nachkommen können die Aneignung und Reflexion von historisch-politischem Wissen fördern. Hierbei sind Gegenwarts- und Zukunftsbezug, Multiperspektivität und Kontroversität zentrale didaktische Prinzipien. Methodische Ansätze, die mit biographischem Erzählen arbeiten, sind geeignet, diese Prinzipien konkret umzusetzen, und haben sich in der historisch-politischen Bildungsarbeit vielfach bewährt.

Ziele des Pilotprojekts

Im Rahmen des Pilotprojektes werden 2024 und 2025 Lernsettings und Lernmöglichkeiten mit Nachkommen jüdischer NS-Verfolgter konzipiert, erprobt und wissenschaftlich evaluiert. Der Schwerpunkt des Pilotprojekts liegt zunächst auf Nachkommen jüdischer Verfolgter, perspektivisch soll das Projekt um weitere Gruppen von NS-Verfolgten erweitert werden.

Mit dem Projekt werden systematisch Erfahrungen mit der Konzeption, Durchführung und Reflexion von Lernsettings aufgebaut, in denen Nachkommen aus ihrem Leben und über ihre Erfahrungen erzählen. Dazu werden etwa zehn Gespräche an Schulen in Wien, Tirol und Kärnten durchgeführt. Diese Prozesse werden begleitend erforscht mit dem Ziel, das Potenzial, das solche Lernarrangements mit Nachkommen für die politische Bildungsarbeit an Schulen haben, auszuloten und zu klären, welche Besonderheiten dabei zu berücksichtigen sind. Aufbauend auf den Ergebnissen der Analyse werden Empfehlungen für die pädagogische Arbeit und mögliche Begleitmaßnahmen (z.B. Materialien) zur professionellen Unterstützung von Pädagoginnen und Pädagogen in der Arbeit mit Nachkommen entwickelt.

Leitende Fragestellungen

Für die Begleitforschung sind zwei Fragestellungen leitend:

1)      Wie gestalten sich Bildungssituationen mit biographischen Erzählungen von Nachkommen im schulischen Kontext und welche Besonderheiten sind im Vergleich mit langjährig praktizierten Bildungssettings mit Erzählungen der ersten Generation auszumachen?

2)      Welche Ansatzpunkte für die pädagogische Vermittlung und Begleitung von Gesprächen zwischen Nachkommen und Schülerinnen und Schülern lassen sich rekonstruieren und in welche Richtung könnte eine entsprechende pädagogische Arbeit in Österreich entwickelt werden?

Die Begleitforschung wird von einem Team der „Doku Lebensgeschichten“ (Universität Wien) mit einem qualitativen Forschungsansatz durchgeführt. Dabei werden die in unterschiedlichen Schulkontexten und Schulstufen erprobten Erzähl-Lern-Settings mit Nachkommen von NS-Verfolgten mit Methoden der teilnehmenden Beobachtung und Reflexionsgesprächen in Fokusgruppen untersucht und im Fallvergleich ausgewertet. Darüber hinaus gibt es regelmäßige Treffen der am Projekt beteiligten Nachkommen zur Supervision und zu kollegialem Austausch.

Veranstaltungen im Rahmen des Projektes

Das Pilotprojekt wird von mehreren Veranstaltungen begleitet, die unter anderem dem internationalen Austausch dienen. Etwa zur Halbzeit des Projekts, am 23. und 24. September 2024, fand ein internationales Fachsymposium statt, zu welchem Expertinnen und Experten aus Deutschland, der Schweiz und Österreich an die Universität Klagenfurt eingeladen wurden. Zwischenergebnisse wurden hier diskutiert, durch Erfahrungs- und Erkenntniswerte internationaler Fachkolleginnen und -kollegen bereichert und damit der bereits bestehende Austausch vertieft und angeregt. 

Ergebnisse

Die Ergebnisse des Pilotprojekts werden in zwei Formaten präsentiert: Im Rahmen eines eintägigen Ergebnisworkshops (Juni 2025) werden die Ergebnisse erstmals vorgestellt und diskutiert und, darauf aufbauend, Empfehlungen für eine zukünftige Bildungspraxis mit Nachkommen entwickelt. Zu dem Workshop werden alle Projektteilnehmenden sowie das BMBWF und der wissenschaftliche Beirat von ERINNERN:AT eingeladen. Die finalen Ergebnisse werden in einem schriftlichen Projektbericht formuliert, in den auch die Rückmeldungen aus dem Workshop eingehen. Schwerpunkte des Berichts sollen sein: Erfahrungen aus den Fallstudien, Perspektiven weiterer Forschung und Empfehlungen für eine künftige Bildungspraxis mit Nachkommen von NS-Verfolgten.

Projektpartner

„Nachkommen von NS-Verfolgten erzählen“ ist ein Projekt des OeAD-Programms ERINNERN:AT in Kooperation mit der Pädagogischen Hochschule Tirol, der Alpen-Adria-Universität Klagenfurt (Institut für Erziehungswissenschaften und Bildungsforschung) und dem Verein „Dokumentation lebensgeschichtlicher Aufzeichnungen“ an der Universität Wien (kurz: „Doku Lebensgeschichten“).

Das Projekt wird gefördert vom Bundesministerium für Bildung, Wissenschaft und Forschung, dem Bundeskanzleramt, dem Nationalfonds der Republik Österreich für Opfer des Nationalsozialismus und der Deutschen Botschaft Wien.

Projektteam

Pädagogische Hochschule Tirol: Irmgard Bibermann, Christian Mathies
Alpen-Adria-Universität Klagenfurt, Institut für Erziehungswissenschaften und Bildungsforschung: Nadja Danglmaier
Doku Lebensgeschichten an der Universität Wien: Bettina Dausien, Gert Dressel, Amos Postner
OeAD-Programm ERINNERN:AT: Julia Demmer, Patrick Siegele

Ansprechpartnerin zum Projekt

Mag. Julia Demmer
Projektmanagement (Leitung Zeitzeuginnen- und Zeitzeugen-Programm) 
julia.demmer@oead.at
+43 1 53408-563

Weiterführende Informationen


[1] Assman, Aleida (2006): Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik, München: C.H. Beck.