Streitfall israelbezogener Antisemitismus
Der IHRA Definition zu Antisemitismus und die Jerusalemer Erklärung aus dem letzten Jahr scheinen unterschiedliche Verständnisse von Antisemitismus im Bezug auf Israel zugrunde zu liegen. Wo siehst du jeweils die Stärken und Schwächen der beiden Definitionen?
Über diese Frage werden mittlerweile heftige Kontroversen geführt. In meiner Antwort kann ich daher nur auf einige zentrale Punkte eingehen. Vorausschicken möchte ich, dass es sich bei einer wissenschaftlichen Definition immer nur um eine Annäherung an das Phänomen des Antisemitismus, der sich als extrem flexibel und historisch anpassungsfähig erweist, handeln kann. Eine fundierte Definition ist allerdings eine wichtige Orientierungshilfe. Die IHRA-Definition versteht sich selbst als Arbeitsdefinition und war ursprünglich als praktische Hilfestellung für eine erste Einschätzung in der politischen-pädagogischen Praxis gedacht. Ihre Leistung liegt auch in einer Sensibilisierung dafür, was Antisemitismus und insbesondere israelbezogener Antisemitismus sein können. Da die Kerndefinition sowie einige der elf angeschlossenen Beispiele sehr vage gehalten sind, lässt sie einen breiten Interpretationsspielraum offen, was wiederum eine Instrumentalisierung durch Regierungen, Parlamente, politische Parteien, Institutionen oder Vereine ermöglicht. Dies war auch ein zentrales Motive für die Publikation der Jerusalemer Deklaration zum Antisemitismus (JDA), die wesentlich klarer formuliert ist. Ein wesentlicher Unterschied zwischen den beiden Definitionen besteht darin, dass die Initiatoren der JDA Antisemitismus als spezifische Form des Rassismus betrachten und den Kampf gegen Antisemitismus mit dem Kampf gegen andere Formen von Intoleranz und Diskriminierung verbinden. Kritisiert wird an der JDA häufig, dass sie wenig darüber sagt, was antisemitisch sein könnte bzw. ist, sondern was per se nicht antisemitisch sein muss. So werden – um eines der umstrittensten Beispiele zu nennen – Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen nicht per se als antisemitisch eingestuft. Angesichts aktueller Debatten über die in sich heterogene und teilweise durchaus antisemitisch agierende Boykottbewegung wird damit allerdings ein wichtiges Problem angesprochen. In Israel wird beispielsweise seit längerem über die durch das Erziehungsministerium erfolgte Aberkennung des prestigeträchtigen Israelpreises an den Mathematiker und Computerwissenschaftler Oded Goldreich gestritten. Goldreich distanzierte sich vom BDS, hat als Gegner der Besatzungspolitik jedoch eine Petition gegen die Zuteilung von EU-Mitteln an die in der Westbank errichtete Ariel University unterzeichnet. Mit der Aberkennung des Preises wird hinsichtlich der Einstufung von Antisemitismus somit nicht zwischen einem Boykott Israels und einem Boykott der besetzten Gebieten unterschieden. Einmal mehr wird an diesem Beispiel somit deutlich, dass dem politischen Standort und den jeweiligen Motiven in der Bewertung von Antisemitismus wesentliche Bedeutung zukommen. Dies ist auch hinsichtlich der Einschätzung von pro-israelischen Positionen (zumeist verbunden mit Islamfeindlichkeit), wie sie seit etwa zehn Jahren von rechten und rechtsextremen Parteien vertreten werden, zu berücksichtigen.
Um berechtigte Kritik an Israel von Antisemitismus zu unterscheiden, wird immer wieder der 3D-Test vorgeschlagen, also die Frage nach Dämonisierung, Doppelstandards und Delegitimierung. Kann der 3D-Test hilfreich sein, antisemitische Aussagen als solche zu erkennen?
Ähnlich der IHRA-Definition, die weitgehend auf dem 3D-Test basiert, kann dieser für eine grundlegende Orientierung darüber, was in einer Kritik an Israels Politik antisemitisch sein kann, hilfreich sein. Wie die IHRA-Definition lässt der 3D-Test einen großen Interpretationsspielraum offen. Insbesondere das Kriterium „Doppelstandart“, womit gemeint ist, dass Antisemitismus vorliegen kann, wenn Israel anders als andere Länder kritisiert wird, wirft viele Fragen auf. Aus den mittlerweile vorliegenden Definitionen lassen sich allerdings Richtlinien für das Erkennen von israelbezogenen Antisemitismus aufstellen. Dazu zählt eine pauschalierende Kritik, die nicht auf konkreten Fakten basiert und keine Akteure, wie israelische Politiker oder Vertreter, benennt, sondern Israel dafür kritisiert, wofür es gehalten bzw. imaginiert wird. Dies geht oft mit einer Schwarz-Weiß-Malerei einher, wobei undifferenziert von den Israeli und den Palästinensern gesprochen wird, Israel (z. B. durch NS-Vergleiche) dämonisiert und die Palästinenser auf eine Opferrolle reduziert werden. Antisemitismus ist insbesondere gegeben, wenn in die Kritik an Israel bekannte antijüdische und antisemitische Stereotype (wie von der „alttestamentarischen Rache“, vom Vorwurf des Kindermordes oder der Allmacht der Juden) mit einfließen.
Die Debatte um israelbezogenem Antisemitismus tangiert postkoloniale Diskurse. Michael Rothberg hat mit dem Begriff der „multidirektionalen Erinnerung“ darüber nachgedacht, wie Erinnerung(en) sich gegenseitig nicht ausschließen bei gleichzeitiger Anerkennung der spezifischen Eigenarten. KritikerInnen sehen darin eine Relativierung der Shoah. Ist die Kritik gerechtfertigt?
Die Ausladung des afrikanischen Historikers Achille Mbembe von der Ruhrtrienale 2020 hat insbesondere in Deutschland eine – keineswegs neue – Diskussion über die Legitimität eines wissenschaftlichen Vergleichs von Holocaust und Kolonialverbrechen entfacht. Israel kommt insofern ins Spiel, da im postkolonialen Diskurs oft auch der jüdische Staat als „Siedlerkolonie“ verurteilt und somit in die Debatte miteinbezogen wird. Werden Vergleiche allerdings nicht als Gleichsetzung verstanden, die jeweiligen historischen Kontexte herausgearbeitet und auf eine Differenzierung des Kolonialismus geachtet, erachte ich eine vergleichende Genozidforschung – die im Übrigen längst betrieben wird – für fruchtbar. In der pädagogischen Arbeit können damit beispielsweise die Erinnerungen von Studierenden und SchülerInnen mit Migrationshintergrund (z. B. Bosnien) miteinbezogen und somit ihre Familiengeschichten aufgewertet werden. Gleichzeitig lassen sich antisemitische Stereotype und Holocaustrelativierungen ansprechen, die sich beispielsweise mitunter in bosnischen Communities durch Srebrenica-Holocaust-Vergleiche und einer damit zu beobachtenden Opferkonkurrenz finden. An diesem Beispiel zeigt sich auch, dass, wie von Rothberg in seinem Konzept der multidirektionalen Erinnerung postuliert, Erinnerungen sich nicht isoliert, sondern dialogisch durch Aneignungen, Anleihen und Gegenüberstellung von anderen Erinnerungen – wie insbesondere durch Vergleiche mit der jüdischen Leidensgeschichte – entwickeln.
Ein Ziel antisemitismuskritischer Bildungsarbeit ist die Anerkennung einer gesellschaftlichen Vielfalt, des Judentums als eine von vielen Religionen und von Israel als Staat. Wie kann dies im Unterricht erreicht werden kann?
Ich gehe im Unterricht hier noch weiter, indem ich aufzeige, dass „Jüdisch-Sein“ über die Religion (die wiederum sehr breit gefächert ist und von der Ultra-Orthodoxie bis hin zum Reformjudentum reicht) hinausgeht und sich auch nur durch das Bekenntnis zu einer bestimmten jüdischen Tradition, durch die Solidarität mit den Verfolgten oder eine besondere Beziehung zu Israel ausdrücken kann. Wichtig ist mir zudem, die komplexe Beziehung zwischen Diaspora und Israel zu betonen. Sehen viele in der Diaspora in der Gründung des jüdischen Staates ein positive Identitätsangebot und ein Land, das sie im Falle einer neuen Verfolgung aufnehmen würde, so stellt die Politik Israels die Diaspora auch immer wieder vor eine Loyalitätsprobe und trägt mitunter zu deren Spaltung bei. In der Vermittlung des Nahostkonflikts ist es daher wichtig, die vielfältigen, auch divergierenden, jüdischen Sichtweisen auf Antisemitismus, Israel und Israels Politik und Palästina sichtbar zu machen.
Monique Eckmann und Gottfried Kößler haben Qualitätsmerkmale antisemitismuskritischer Bildungsarbeit formuliert, bei denen sich viel um die Haltung und Selbstreflektion der PädagogInnen dreht. Wir bieten viele praktische Methoden und Materialien an, die Rolle der Lehrenden ist bisher nicht so stark in den Blick genommen worden. Wie könnten wir das ändern?
Meiner Meinung nach sind dazu neue Konzepte für die PädagogInnen-Fortbildung notwendig, zumal viele Lehrpersonen wenig Wissen über die Geschichte und Gegenwart des Nahostkonflikts, die jüdische Geschichte und den Antisemitismus mitbringen. Ich stimme mit Eckmann und Kößler darin überein, dass – gerade aufgrund der mit dem Thema verbundenen Emotionen – eine reine Wissensvermittlung hierbei nicht ausreicht ist. Interessant finde ich auch deren anerkennungspädagogischen Ansatz, wonach kontroverse Ansichten zum Nahostkonflikt geäußert werden dürfen, offenem Rassismus und Antisemitismus allerdings entgegengehalten werden muss.
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Weitere Beitrage zum Thema Antisemitismus finden Sie im Jahresbericht 2021 von ERINNERN:AT. Zudem stellt ERINNERN:AT Lernmaterialien, Handreichungen und Empfehlungen bereit, um das Thema israelbezogener Antisemitismus und Nahostkonflikt mit Schülerinnen und Schülern im Unterricht behandeln zu können.