Tagungsbericht: Vielfalt jüdischen Lebens in Geschichte und Gegenwart vermitteln – ein inklusiver Beitrag zum historischen Lernen und zur Antisemitismusprävention
In einem Fachsymposium vom 13. bis 14. Oktober 2022 in Wien befassten sich ExpertInnen aus Österreich, Deutschland und der Schweiz im Rahmen von Vorträgen und Workshops mit dem Thema „Vielfalt jüdischen Lebens in Geschichte und Gegenwart vermitteln – ein inklusiver Beitrag zum historischen Lernen und zur Antisemitismusprävention“. Die Tagung wurde von ERINNERN:AT, dem vom OeAD durchgeführten Programm zum Lehren und Lernen über Nationalsozialismus und Holocaust, dem Centrum für Jüdische Studien der Universität Graz, der Israelitischen Kultusgemeinde Wien, und der Deutschen Botschaft Wien veranstaltet.
Die Grußworte von VertreterInnen des BMBWF, des OeAD, der IKG und der Deutschen Botschaft (siehe Programm), stellten das Erfordernis einer frühen und umfassenden Vermittlung von Wissen über jüdisches Leben in Geschichte und Gegenwart und damit auch die Relevanz der Lehrpersonenaus- und -weiterbildung sowie der entsprechenden Lehr- und Lehrmittel ins Zentrum. Dass jüdisches Leben und der Beitrag von Jüdinnen und Juden zur Entwicklung von Demokratie, Gesellschaft und Kultur als integraler Teil Österreichs wahrgenommen und wertgeschätzt werden sollen, unterstrichen die Grußwortgeber ebenso wie die Forderung, dass es Initiativen seitens Bildung und Erinnerungspolitik benötige, um ein positives Umfeld für jüdisches Leben sicherzustellen.
Video-Mitschnitt Fachsymposium: Begrüßung und Keynotes von Martin Lücke und Christian Heuer
Patrick Siegele, Gerald Lamprecht und Victoria Kumar skizzierten anschließend inhaltliche Überlegungen zum Symposium, wobei versucht wurde, drei verschiedene Ebenen miteinander zu verschränken: die Ebene der wissenschaftlichen Diskurse in den Jüdischen Studien, die Ebene der Vermittlung und der Geschichtsdidaktik, sowie die Praxis der Vermittlung von jüdischer Geschichte. Leitfragen waren schließlich, wie „jüdisches Leben“, „jüdische Kultur“ oder „jüdische Identität“ in seiner Vielfalt dargestellt werden kann, ohne Stereotype zu wiederholen oder neue Fremdzuschreibungen zu schaffen sowie welchen Beitrag Bildungsangebote zum Abbau antisemitischer Vorurteile und Feindbilder tatsächlich leisten können. Dafür wurden zahlreiche KollegInnen aus der DACH-Region eingeladen, die ihre Expertise und Erfahrung in die Tagung eingebracht haben.
Keynotes des ersten Tages: Historisches Lernen inklusiv – ein geschichtsdidaktischer Blick
Die ersten beiden Keynotes widmeten sich geschichtsdidaktischen Perspektiven auf das (inklusive) historische Lernen: Martin Lücke, Universitätsprofessor für Didaktik der Geschichte an der Freien Universität Berlin, präsentierte einen „weiten“ Inklusionsbegriff und führte aus, was der Einbezug des Paradigmas der Inklusion für historisches Lernen und für die Konzeption von Geschichtsdidaktik bedeutet, dies vor allem mit Bezügen zur jüdischen Geschichte. Christian Heuer, Leiter des Arbeitsbereichs Geschichtsdidaktik an der Karl-Franzens-Universität Graz, problematisierte die hohen Erwartungen, die an „sinnvolles“ schulisches und außerschulisches Geschichtslernen gestellt werden, sowie die normative Aufgeladenheit dieses Konzeptes von historischer Bildung und des dahinterstehenden Vermittlungsbegriffes. Schließlich versuchte er Möglichkeiten aufzuzeigen, die in der Aneignung des Historischen durch historisches Erzählen liegen.
Workshop von Peter Larndorfer (OeAD | ERINNERN:AT Wien) zu den Unterrichtsmaterialien "Vielfalt - Jüdisches Leben vor der Shoah" (
Workshophase 1: Historisches Lernen zur Geschichte der Vielfalt jüdischen Lebens in Deutschland und Österreich
Die darauffolgende erste Workshopphase stellte Historisches Lernen zur Geschichte der Vielfalt jüdischen Lebens in Deutschland und Österreich ins Zentrum. Martin Liepach vom Fritz Bauer Institut in Frankfurt fragte danach, welches Bild von Jüdinnen und Juden vermittelt wird, wenn jüdische Geschichte im Geschichtsunterricht vorwiegend in Verbindung mit Nationalsozialismus und Holocaust unterrichtet wird. Er präsentierte Teile der Ergebnisse einer Schulbuchanalyse, bei der Präsenz und Darstellung jüdischer Geschichte anhand von Texten und Bildern in deutschen Schulbüchern der Sekundarstufe I untersucht wurden.
Unter dem Blickwinkel dieser inhaltlichen und didaktischen Einengung kommt dem Unterrichtsmaterial „Vielfalt – Jüdisches Leben vor der Shoah“, das Peter Larndorfer, Netzwerk-Koordinator von ERINNERN:AT Wien, in seinem Workshop vorstellte, besondere Bedeutung zu. Grundlegende Überlegungen zur Auseinandersetzung mit der Geschichte jüdischen Lebens in Österreich wurden vermittelt und Erfahrungen mit dem Thema im Unterricht ausgetauscht.
Einen eigenständigen Zugang zur jüdischen Geschichte, Kultur und Gegenwart in Hamburg eröffnet das Bildungsprojekt „Geschichtomat“, vorgestellt von Carmen Bisotti vom Institut für die Geschichte der deutschen Juden (IGdJ). Hier begeben sich Jugendliche in Hamburg im Rahmen von Projektwochen auf Spurensuche – sie recherchieren, führen Interviews und sammeln Film- und Fotomaterial. Jugendliche forschten auch in den von Martha Keil vom Institut für jüdische Geschichte Österreichs – INJOEST präsentierten Projekten des Programms „Sparkling Science“ des BMBWF. Bei den Hinterbliebenen der Opfer, zu welchen enger Kontakt über das INJOEST besteht, nehme das Bedürfnis zu, mehr über die Familien herauszufinden, um sowohl Wissens- als auch emotionale Lücken zu schließen. Keil empfahl in ihrem Workshop, Fragestellungen im Unterricht so zu formulieren, dass sie an das Leben der Jugendlichen anknüpfen und die SchülerInnen zum Forschen motivieren.
Martha Keil (Injoest) leitete den Worhshop zu Sparkling Science-Projekten "Erfahrungen und Konzepte zur Vermittlung jüdischer Geschichte" ( .
Keynotes des zweiten Tages: Jüdische Perspektiven heute: Sichtbarkeit, Selbstdefinition, Empowerment
Mit gegenwärtigen jüdischen Perspektiven, mit Sichtbarkeit, Selbstdefinition und Empowerment setzten sich die beiden Keynotes am zweiten Konferenztag auseinander. Gerald Lamprecht, Leiter des Centrums für Jüdische Studien an der Karl-Franzens-Universität Graz, warf einen historischen Blick auf die Frage nach der Abwehr des Antisemitismus und befasste sich dabei sowohl mit den AkteurInnen als auch mit deren Strategien – vor allem im Bereich der Aufklärung und Bildung. Jüdinnen und Juden waren niemals bloß passive Opfer, sondern stets auch handelnde AkteurInnen mit unterschiedlichen Handlungsspielräumen. Außerdem waren sie stets Teil der Gesellschaften, in denen sie lebten und an deren Entwicklungen maßgeblich beteiligt. Der Ort jüdischer Geschichte ist daher nicht abgesondert von der allgemeinen Geschichte, sondern Teil von ihr. Lamprecht endete seinen Vortrag mit der Frage, wie wir Gesellschaft denken und beschreiben und welchen Platz wir dabei Vorstellungen von Heterogenität und Differenz geben. „Die Beschäftigung mit jüdischer Geschichte und jüdischen Erfahrungen kann uns letztlich dabei helfen, unsere Vorstellungen von gesellschaftlichem Zusammenleben zu hinterfragen, und sie kann uns auch Antworten geben auf aktuelle gesellschaftliche und politische Problemfelder.“
Christa Kaletsch von der Deutschen Gesellschaft für Demokratiepädagogik verwies in ihrem Vortrag darauf, dass sich im Sozialraum Schule die postnationalsozialistische, plurale Einwandergesellschaft widerspiegle, wo Menschen mit unterschiedlichen Bezügen, Vorstellungen und Erfahrungen aufeinandertreffen. SchülerInnen dürften nicht auf einen einzigen (tatsächlichen oder zugeschriebenen) Identitätsbezug reduziert werden. Lehrkräfte sollten offene Räume schaffen und Fragen so stellen, dass die SchülerInnen selbst entscheiden können, welchen Aspekt ihrer Identität sie einbringen wollen. Antisemitismus zeige sich auch an Schulen offen, doch meist trete er in subtilen, versteckten Formen auf. Lehrpersonen aller Unterrichtsgegenstände muss die Möglichkeit zur Aus- und Weiterbildung gegeben werden, um diese Erscheinungsformen zu erkennen und zu handeln. Über die wichtigsten Inhalte und Erkenntnisse ihres Vortrags schreibt Christa Kaletsch in folgendem Artikel: Link
Video-Mitschnitt Fachsymposium: Keynotes Gerald Lamprecht und Christa Kaletsch. Weiters finden Sie hier eine schriftliche Ausarbeitung des Vortrags von Christa Kaletsch.
Workshopphase 2: Bildungsangebote in Österreich und Deutschland zur Vermittlung jüdischer Vielfalt der Gegenwart
In der zweiten Workshopphase wurden Bildungsangebote in Österreich und Deutschland zur Vermittlung jüdischer Vielfalt der Gegenwart präsentiert: Das Dialog- und Aufklärungsprojekt Likrat stellten Jennyfer Mitbreit von LIKRAT der IKG Wien, Marat Schlafstein von Meet a Jew, Zentralrat der Juden Deutschland, und Benjamin Unger von LIKRAT Schweiz in ihrem Workshop vor. Likrat (hebräisch: aufeinander zugehen) existiert in allen drei Ländern, in Deutschland nennt sich das Projekt inzwischen „Meet a Jew“. Jüdische Jugendliche, Likratinos genannt, besuchen auf Wunsch der Lehrer:innen Schulen, um einen offenen Dialog über ihr gelebtes Judentum mit gleichaltrigen nichtjüdischen Schüler:innen zu führen. Die Gespräche finden auf Augenhöhe in vertrauter Atmosphäre statt, die Nachfrage ist groß. Auch andere Institutionen wie Universitäten und Polizeischulen, u.v.m. nehmen mittlerweile diese Möglichkeit wahr.
Methoden und Zugänge, die zur kritischen Auseinandersetzung mit antisemitischen Stereotypen und Diskriminierung anregen, und einen Beitrag zur Vermittlung gesellschaftlicher Vielfalt heute leisten, bietet die Broschüre „Alltag von Jüdinnen und Juden in Berlin“, die Veronika Nahm, Direktorin des Anne Frank Zentrums in Berlin, in ihrem Workshop vorstellte. Grundschüler:innen sind seit vielen Jahren eine wichtige Zielgruppe der historisch-politischen Bildungsarbeit des AFZ. Im jungen Alter sind antisemitische Stereotypien noch wandelbar. Daher bestehe eine besondere Aufgabe und Verantwortung darin, differenzierte Bilder vom Jüdischsein zu vermitteln.
Ein Ort der städtischen Vielfalt ist das Jüdische Museum der Stadt Wien. Es vermittelt anhand von religiösen Feiertagen und Bräuchen die Bandbreite jüdischen Lebens in Wien. Hannah Landsmann vom Jüdischen Museum Wien zeigte in ihrem Workshop auf, dass Religion und Kultus allen Menschen zwischen Geburt und Tod ein Handlungs- und Reflexionsterrain anbieten.
Im Workshop von Klaus Davidowicz vom Institut für Judaistik der Universität Wien wurde ein Forschungsprojekt im Auftrag der IKG Wien vorgestellt. Es befasst sich mit der Rettung und Zugänglich-Machung des Archivs der Jüdischen Gemeinde Wien. Über 200 Biografien aus dem Umfeld der IKG wurden recherchiert und deren Lebensgeschichten aufbereitet.
Video-Mitschnitt Fachsymposium: Abschließende Podiumsdiskussion
Podiumsdiskussion und Ausblick
Die abschließende Podiumsdiskussion unter Teilnahme von Martina Maschke (Abteilungsleiterin im BMBWF, Holocaust Education international), Antonio Martino (Leiter der Stabsstelle österreichisch-jüdisches Kulturerbe im Bundeskanzleramt), Patrick Siegele (OeAD | Programm ERINNERN:AT), Barbara Staudinger (Jüdisches Museum Wien) und Beatrice Kricheli (Jugendkommissions-Vorsitzende der IKG Wien) fasste die Erkenntnisse der Tagung zusammen. Ganz wesentlich in der ausblickenden Diskussion war die Umsetzung der Nationalen Strategie gegen Antisemitismus im Bildungsbereich, für welche noch weitere Handlungsanleitungen sowie die Miteinbeziehung von jüdischen Perspektiven und Erfahrungen unbedingt notwendig seien.