Vielfalt jüdischer Selbstdefinitionen und Betroffenenperspektiven in Bildungsprozessen
Am 13. und 14. Oktober 2022 veranstaltete das OeAD-Programm _erinnern.at_ ein Fachsymposium zum Thema „Vielfalt jüdischen Lebens in Geschichte und Gegenwart vermitteln“. Christa Kaletsch von der Deutschen Gesellschaft für Demokratiepädagogik hielt eine der Keynotes, welche gegenwärtige jüdische Perspektiven in Bildungsprozessen in den Fokus nahmen. In diesem Beitrag schreibt die Referentin über die wichtigsten Inhalte und Erkenntnisse aus ihrem Vortrag. Den gesamten Bericht zur Tagung sowie Videomitschnitte finden Sie unter: www.erinnern.at/tagungsbericht-vielfalt-2022
„Daniel, du bist Musiker, du bist Amerikaner, und du bist Jude. Welches von den dreien hat dich am tiefsten geprägt?“, fragt der Journalist Thomas Gross[1] den Musiker Daniel Kahn. Kahn antwortet: „Das Vierte, das, was du nicht genannt hast. Ich bin auch Fahrradfahrer, Landkartensammler, Hobbyfilmkritiker, Vorstadtarchäologe, Frequent Flyer, Gewerkschaftsaktivist, Ex-Sägewerksarbeiter, Telegramsänger…“
In jeder Klasse, in jeder Schulgemeinde kommen Menschen mit unterschiedlichen Bezügen, Vorstellungen und Erfahrungen zusammen. Die Identitäten aller Beteiligten setzen sich aus vielen verschiedenen Aspekten zusammen. Je nach Situation und Kontext kann der eine oder andere Aspekt unterschiedlich bedeutsam sein. Vielfältige Personen treffen also in vielfältigen Situationen aufeinander (vgl. Kaletsch 2019). Ob sich Kinder und Jugendliche in Bildungsinstitutionen wohl und mit ihren vielfältigen Identitätsbezügen selbstverständlich zugehörig fühlen können, hängt sehr wesentlich von der demokratischen (Schul-)Kultur und einer entsprechend diskriminierungskritischen und heterogenitätssensiblen Herangehensweise ab. Diese ist nicht selbstverständlich da. Sie kann entstehen, wenn Räume zur Reflexion von Alltagsroutinen, Ritualen und methodischen Zugängen geöffnet werden. Oder wenn eine Auseinandersetzung mit Normalitätsvorstellungen, durch die das Gleichheitsgebot Gefahr läuft, verletzt zu werden, erfolgt. Dabei spielen gesellschaftliche Diskurse, in denen oft auch unbeabsichtigt rassistische und antisemitische Wissensbestände reproduziert werden, eine große Rolle.
Die Spezifik des antisemitischen Othering
In Bezug auf jüdische Identität besteht eine sehr große Gefahr der Reduktion allein auf diese – unabhängig davon, welche Relevanz das Jüdisch-Sein für die Personen selbst hat und wie sie ihre jüdische Identität leben möchten. Zur Entwicklung einer antisemitismuskritischen demokratischen (Schul-)Kultur bedarf es einer kritische Selbstreflektion über Bilder von jüdischer Identität. Die Achtung der Vielfalt jüdischer Selbstdefinitionen ist keineswegs selbstverständlich (vgl. Ott 2020, S. 37; von Haselberg 2020, S. 10) vielmehr spiegeln sich in der Wahrnehmung von Juden vor allem Vorstellungen über Juden, in denen sich vielfach unreflektierte Muster (sekundär) antisemitischer Bilder zeigen. Dabei verbinden sich diese der Realität entbehrenden Vorstellungen nicht selten mit einem Ausblenden jüdischer Perspektiven. Die Auseinandersetzung mit Antisemitismus wird noch immer vielerorts als ein abstraktes Phänomen (vgl. Chernivsky 2020, S. 19) betrachtet und die Notwendigkeit der Beschäftigung damit mit der grundlegend falschen Annahme der Nicht-Existenz von Jüd*innen[2] abgewehrt. Es zeigt sich immer wieder, „wie wenig ein Bezug hergestellt wird zwischen konkretem Antisemitismus und lebenden Jüdinnen und Juden“ (von Hasselberg 2020, S.9). Dies steht in großem Widerspruch zur „Kontinuität und Wirkung von Antisemitismus als eine lebensgeschichtliche biographische Erfahrungskategorie“ (Chernivsky 2020, 19).
Damit ist der Problemhorizont beschrieben, in dem jüdische Stimmen – obwohl vielfältig und vielstimmig vorhanden[3] – fehlen und Jüd*innen nicht selbstverständlich dazu gehört werden, wozu sie sprechen möchten. In verschiedenen (Bildungs-)Kontexten engagierte Jüd*innen beschreiben die als Dilemma empfundene Situation, in der sie um eine ernsthafte Anerkennung von Antisemitismus streiten müssen, obgleich sie sehr stark das Bedürfnis haben, nicht immer wieder und immer nur darüber sprechen zu wollen.
Empfehlungen für die Gestaltung von Lernräumen
Die die Atmosphäre in pädagogischen Räumen gestaltenden und verantwortenden – zumeist nicht-jüdischen – Akteure können diese Komplexität anerkennen und sich darum bemühen, entsprechende Konsequenzen zu ziehen. M.E. empfiehlt es sich, beharrlich und konsequent darauf zu achten und von anderen einzufordern, dass Menschen immer in ihrer Pluralität wahrgenommen werden und sich Räume öffnen, in denen jede*r selbstbestimmt entscheiden kann, was er*sie je nach Situation und Kontext als relevant empfindet und einbringen möchte. Dabei kann eine bewusst zurückhaltende – in gewisser Weise demütige – Haltung wegweisend sein: sich überraschen lassen, offen und voller Neugierde in Situationen hineingehen, in der Vorstellung: Ich weiß, dass ich eigentlich nichts weiß. All dies könnte helfen, sich einlassen und wirklich Neues entdecken zu können.
Durch die Entwicklung offener Fragestellungen, die die Selbstbestimmtheit der Teilnehmenden ermöglicht und fördert, lässt sich sehr wesentlich der Gefahr der ungewollt ausgelösten Zuschreibungsmechanismen begegnen. Dies beginnt bei der Vergabe von Referatsthemen, bei denen Lehrer*innen Räume öffnen und Kinder und Jugendliche in der Entwicklung vielfältiger Interessen fördern können, statt sie auf vermeintliche Herkünfte und Bezüge zu reduzieren und zu vermeintlichen Expert*innen für Terrorgruppen oder Krisenregionen zu machen (vgl. Kaletsch 2011, 65 und Kaletsch/Glittenberg 2021, 27ff.). Die Gefahr der Festlegungen besteht auch bei Festgestaltungen, in denen Teilnehmende möglichst „authentische“ Speisen mitbringen sollen und genötigt werden, den von ihnen erwarteten Fremdzuschreibungen zu entsprechen.
Es empfiehlt sich methodische Zugänge – insbesondere im Kontext des sozialen Lernens – kritisch dahingehend zu prüfen, ob sie entsprechend problematische Fremd- und Weltbilder reproduzieren. Die Anlage von Übungen und Fragestellungen lassen sich bei Bedarf auch transformieren. So lässt sich bei einer Übung, in der persönliche Bezüge zu Orten sichtbar gemacht werden sollen, anstelle der festlegenden Frage nach dem Geburtsort der Eltern, nach einem Ort fragen, „der den Teilnehmenden viel bedeutet und an dem eine Person lebt oder gelebt hat, an die die Person gerne denkt. Oder auch ganz einfach einen Ort, an dem ihr gerne seid oder gerne mal sein würdet“. Diese kleine Veränderung einer Übung kann sehr große Effekte bewirken. Zum einen können diejenigen, die in der ursprünglichen Übungsanlage drohten an einem Ort festzustecken, sich in ihrer Beweglichkeit entdecken oder Sehnsuchtsorte benennen. Zum anderen erleben diejenigen, die nicht selten als Migrations-Andere adressiert und gelesen werden, dass sie die Wahl der für sie relevanten Bezüge selbst in der Hand haben und erlangen somit Deutungshoheit (zurück). Diese anzuerkennen und zu fördern, erfordert die Wahrnehmung dominanzkultureller Mechanismen durch die den Lernraum gestaltenden Pädagog*innen. Eine zurückgezogene, moderierende Haltung kann dabei helfen, einen Gesprächsraum zu eröffnen, in dem Expertisen geteilt und Solidarität ermöglicht wird. Dies verlangt von den die Lernräume gestaltenden Pädagog*innen einen Paradigmenwechsel, der – wenn er richtig verstanden wird – gleichermaßen Einlassen verlangt und Entlastung ermöglicht.
Paradigmenwechsel: Deutungshoheit bewusst aufgeben und aktiv zuhören
„In einer Gesellschaft, in der Jüdinnen und Juden vielstimmig, divers und widersprüchlich erlebt werden (können), kann auch Antisemitismus anders verhandelt werden als in einer Gesellschaft, in der sie vor allem als eine symbolisch überhöhte Mini-Minorität gesehen werden.“ (von Hasselberg 2020, S. 11) Durch eine aktiv zuhörende Haltung kann Empathie entstehen, die die Komplexität der Herausforderungen in einer postnazistischen Gesellschaft wahrnimmt. Hierzu abschließend der Pianist Igor Levit im Gespräch mit der Frankfurter Rundschau am 5.10.2022:
„Politische Gesten und tatsächliches Zuhören gehen leider häufig nicht Hand in Hand … auf gesellschaftlicher Ebene würde ich als Jude jeden einzelnen Stolperstein wahren und seine Anbringung mit allem, was ich habe, unterstützen. Aber als Mensch Igor muss ich einen sehr hohen Preis dafür zahlen, sie jeden Tag sehen zu müssen. Ich habe keine Lösung, aber es würde schon sehr helfen, wenn mir vonseiten des Landes das Gefühl gegeben würde: Ja, wir wissen, es gibt einen Konflikt. Ja, wir hören dich.“
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[1] Siehe Interview in Kulturzeitschrift DU 822: Dezember 2011/Januar 2012 mit dem Schwerpunktthema Jüdische Kultur, S.53
[2] Hier und im Folgenden wird die Genderweise der Autorin genutzt.
[3] Siehe hierzu Ott/Gerczikow 2023
Hinweise zu der verwendeten Literatur
Chernivsky, Marina (2020 ): Antisemitismus als biographische Erfahrungskategorie, in: Trauma. Zeitschrift für Psychotraumatologie und ihre Anwendung, 2020, Heft 1; S. 18-25
von Haselberg, Lea Wohl 2020: Jüdische Sichtbarkeit und Diversität, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ) S. 8-13
Kaletsch, Christa/Glittenberg, Manuel (2021): Antisemitismus an Schulen – erkennen und handeln. Empfehlungen für eine demokratische Schulkultur
Kaletsch, Christa (2019): Othering: Warum Zugehörigkeit so wichtig ist, in: Klasseleiten Nr.6, S. 22-24
Kaletsch, Christa (2011): Demokratie lernen und Menschenrechtsbildung in der pluralen Gesellschaft, in: Niehoff. Mirko/Üstün, Emine (Hrsg.): Das globalisierte Klassenzimmer. Theorie und Praxis zeitgemäßer Bildung, S. 52-73
Ott, Monty/Gerczikow, Ruben (2023): „Wir lassen uns nicht unterkriegen“ Junge jüdische Politik in Deutschland
Ott, Monty (2020): Dasein im Widerspruch. Die Verschränkung von Vergangenheitsabwehr, Homofeindlichkeit und Antisemitismus und ihre Folgen für queer-jüdisches Leben; in: Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft (IDZ) (2020): Wissen Schaft Demokratie. Schriftenreihe Für Demokratie und Zivilgesellschaft (2020/07)
Zur Autorin
Christa Kaletsch, Jg. 1967 M.A. Fachjournalismus Geschichte; freiberufliche Autorin und Fortbildnerin in den Bereichen Demokratie und Menschenrechtsbildung; Stärkung im Umgang mit Rassismus und Antisemitismus, Vorsitzende von Makista – Bildung für Kinderrechte und Demokratie e.V. kaletsch@makista.de
Zur Tagung „Vielfalt jüdischen Lebens in Geschichte und Gegenwart vermitteln“
Zum Fachsymposium im Oktober 2022 lud das OeAD-Programm _erinnern.at_ gemeinsam mit der Israelitischen Kultusgemeinde Wien, dem Centrums für Jüdische Studien der Universität Graz und der Deutschen Botschaft Wien. Einen detaillierten Bericht zur Tagung inklusive Videomitschnitten der Vorträge und Diskussionen finden Sie hier.